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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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merken, Verletzungen des Gesetzes zu protokollieren, vor allem aber die Bereitschaft, sich das Urteil über das gerechte Strafmaß, einschließlich des Begnadigungsrechts, vorzubehalten und den Augenblick der Bestrafung offenzulassen. Dergleichen Konzeptionen können nur in einer Kultur auftauchen, die seit längerem über zwei Archetypen »zurückbehaltender« Technik verfügt, zum einen den Kornspeicher oder allgemeiner das Vorratslager, zum anderen das Buch oder allgemeiner die Schrift und ihre Sammlung in Bibliotheken (ergänzt durch die gerichtlichen Rechtsfindungstechniken). Von diesen Grundmustern her nimmt die Funktion des Archivs ihren Ausgang. Das Archiv, als Institution und als kulturelle Funktion, entfaltet sich, sobald Nervensysteme mit externen Speichern und Aufschreibesystemen interagieren, anders gesagt, wenn die Zusammenarbeit zwischen den subjektiven und objektiven Gedächtnissen in förmliche Abläufe gefaßt wird. Der Richtergott ist daher naturgemäß der ursprüngliche Archivar im Reich der Sittlichkeit. Sein Amt besteht darin, die Erinnerung an strittige Dinge zu späterer Wiederaufnahme festzuhalten. 9
    Obgleich die immanente Theologie der Bibel schon früh die Tendenz verrät, Jahwe über die Zeiten zu stellen, namentlich über die Permanenzphantasien und die prunkenden Genealogien der umgebenden Imperien, bleibt er als Richter und Prozeßvorsitzender für die eigene Gefolgschaft ein Agent, der in die historischen Schicksale des Volkes undder Völker »einbricht«. Aus diesem Grund muß der jüdische Richter-Gott durchgehend als herrschender König vorgestellt werden, ohne Rücksicht auf den empirischen Widersinn eines prinzipiell unsichtbaren Königtums. Durch die Verköniglichung Gottes gerät der Zeithorizont seiner Interventionen unter Spannung. Die göttlichen Unrechtsaufzeichnungen und Zornaufbewahrungsleistungen machen weite Bögen zwischen dem Moment des »Frevels« und dem Moment der »Rache« möglich, aber noch bedeuten sie nicht die Zurückstellung der strafenden Gewalt in die Endzeit oder gar ihre Auslagerung in die Ewigkeit.

Die Unterbrechung der Rache
    Das biblische Buch Genesis hält einen Einschnitt fest, der für die Organisation der menschlichen Zorngedächtnisse weitreichende Folgen zeitigt. Der Bericht über den ersten Mord, begangen von dem Ackerbauern Kain an seinem von Gott bevorzugten jüngeren Bruder Abel, dem Schafhirten, ist zugleich die älteste Urkunde über die Geheimnisse der Ungerechtigkeit. Gott erscheint in dieser Geschichte erstmals ganz offen als der Herr der Faktizität: Er schaut Abels Opfer wohlgefällig an, das Opfer Kains läßt er hingegen unbeachtet. Für diese Differenz fehlt jede Spur einer Motivierung. Zum Begriff Gottes gehört die Freiheit, zu diskriminieren, wo und wen er will. (Dem nächsten, ebenso folgenschweren Beispiel hierfür begegnen wir in der Geschichte von Esau und Jakob: Auch hier liebt Gott ohne Angabe von Gründen den einen und haßt den anderen – indessen das Gebilde nicht zum Bildner sagen darf: Warum hast du mich so gemacht, 10 daß du mich ablehnen mußtest?) Dem Diskriminierten wird die Beherrschung seines Kränkungsaffekts zugemutet:
    »Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über
    ihn.« 11
    Der Sinn dieser vor die Taterzählung eingeschobenen Ermahnung ist offensichtlich: Der Brudermord soll nicht als spontane Affekthandlung mißverstanden werden. Vielmehr muß er als Resultat einer Suspension der deutlich ausgesprochenen Warnung gelten. Die Tat geschieht nicht in der relativen Unschuld des hitzigen Gefühls. Um sie zu begehen, muß der Täter die klar gezogene Grenze mutwillig überschreiten – und erst mit dieser transgressiven Geste ist der Tatbestand Frevel erfüllt. Man kann dies schwerlich explizit genug herausstellen: Kain folgt nicht dem Gesetz der Trägheit, die einem starken Affektschwung innewohnt; er nimmt sich Zeit für seine Tat – er lockt den Bruder unter einem Vorwand aufs offene Feld, um ihn dort zu erschlagen. Von da an lebt er in der Sonderzeit der Schuld; er ist an seine eigene Tat angepflockt: »Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein«, spricht der Herr zu ihm; »rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen«, respondiert

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