Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dank der apokalyptischen Reserve gegenüber dem Endspiel der wüsten Welt eine Art des Zuschauens entfaltet, die weit über das Dabeisein bei künstlerisch-kultischen oder sportlich-grausamen Schauspielen hinausweist.
Die Apokalyptiker erfinden eine Ironie, die tiefer reicht als die sokratische. Sie wähnen sich im Einverständnis mit einem Gott, der es mit der Welt
insgesamt anders meint, als die Weltkinder glauben möchten. Zu dieser Ironie gehört die Absage an die geltenden Werte. Aus dem apokalpytischen Empfinden
folgt das Aufhören jeglicher spirituellen Investitionen in »diese Welt« 24 (indessen die politischen Apokalyptiker und
anarchistischen Millenaristen, von denen wir weiter unten sprechen werden, sich der aktiven Verschlimmerung widmen). Nachdem der Gläubige seine affektiven
Einlagen aus der Welt zurückgezogen hat, überläßt er sie ihrem vermeintlich unaufhaltsamen Lauf – dem nahe bevorstehenden Ende entgegen. Einem solchen
Vorgang beizuwohnen bedeutet, zu einem Theaterbesucher der besonderen Art zu werden. Unter allen möglichen Schauspielen ist der Weltuntergang das einzige,
bei dem man sich nicht eigens um einen Vorzugsplatz bemühen muß. Es genügt, indie Endzeit geboren zu sein und zu wissen, daß es sich um die Endzeit handelt, um ständig in der ersten Reihe zu sitzen. Wer dort Platz genommen hat, kann sicher sein, hinsichtlich seines anti-imperialen, anti-kosmischen, anti-ontologischen Ressentiments auf seine Kosten zu kommen, es sei denn, das Stück gerate nicht so in Gang, wie die Zuschauer es erwarten.
Die Hoffnung der Apokalyptiker ist auf eine einfache und überschwengliche Annahme zurückzuführen: daß sie sehr bald oder etwas später, in jedem Fall noch zu ihren Lebzeiten, den Untergang »dieser Welt« erleben dürften. Ihre Intelligenz wird durch die Aufgabe stimuliert, die Zeichen zu lesen, die das glühend ersehnte Unheil ankündigen. Aus dieser Disposition entsteht das endzeitdiagnostische Denken, das Dinge in Zeichen und Zeichen in Vorzeichen umwandelt – die Matrix aller »kritischen Theorie«. Das Lebensgefühl der Apokalyptiker ist dominiert vom Naherwartungsfieber und der frohen Schlaflosigkeit derer, die für die Welt die Vernichtung, für sich selbst die Verschonung erträumen. Daher können Apokalyptiker über so gut wie alle irdischen Mißstände hinwegsehen, nur über einen nicht: daß die Welt nicht daran denkt, ihrer Bestimmung zum Untergang zu gehorchen. Was sich weigert, unterzugehen, wird eines Tages »das Bestehende« heißen. Sich selbst zu erhalten ist das Laster der Welt. Daher das Kennwort unter Eingeweihten: »Daß es so weitergeht, ist die Katastrophe.«
Wenn Apokalyptik scheitert, muß der Anbruch des Reichs Gottes umdatiert werden, und sie scheitert unweigerlich, wenn der angekündigte Tag des Zorns zu lange auf sich warten läßt. In diesem Fall sehen sich die rächerische Ungeduld mit der Welt und die Hoffnung auf das, »was anders wäre«, dazu aufgefordert, postapokalyptische Kompromisse mit dem »Bestehenden« zu schließen. Sind solche Arrangements gefunden, hat das christliche Zeitalter begonnen. Darummüßte vor jeder Einführung in die Geschichte des Christentums ein Kapitel unter der Überschrift When apocalypticism fail s stehen. Aus ihm ginge hervor, warum Christentum und Gnosis Parallelphänomene sind, die sich gegenseitig erläutern, sofern beide ihre je eigenen Konsequenzen aus dem Ärgernis zogen, daß sich die Welt (warum jetzt nicht einfach das Römerreich sagen?), der Eile der Endlustpartisanen zum Trotz, als untergangsresistent erwies.
Vor dem Hintergrund des Gesagten wird verständlich, weshalb das Christentum anfangs als eine kühne Auflösung der akuten apokalyptischen Konstellation von Restzeit und Gotteszorn auftrat. Zunächst war auch die jesuanische Verkündigung wie selbstverständlich von der Voraussetzung durchdrungen, daß die Geduld Gottes mit der Welt erschöpft ist. Daher die Botschaft, das Gericht stehe nahe bevor, obschon Tag und Stunde noch verhüllt sind. Die Annahme, wonach sich am Tag der Abrechnung sehr große Teile der Menschheit als unrettbar erweisen werden, bezweifelt keiner der vom Endzeitfieber Ergriffenen, Johannes der Täufer so wenig wie Jesus selbst, erst recht nicht Johannes, der Verfasser der christlichen Apokalypse. (In dieser Hinsicht ist der spätere Vater des Schreckens, Aurelius Augustinus, keineswegs als Erfinder von schlimmen Zusätzen zu einer ursprünglich gutartigen Lehre
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