Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
anzusehen; er ist nur der aufmerksamste und rücksichtsloseste Interpret der Gründungsdokumente.) Wenn schon das Himmelreich nahe ist, dann erst recht die Katastrophe, durch deren Eintreten es seine Gegenwart errichtet. Das Wort »Gegenwart« läßt sich von nun an nicht mehr ohne Furcht und Zittern aussprechen. Nach der Hinrichtung des Messias wird die rettende Katastrophe mit der Wiederkehr des Erniedrigten in Herrlichkeit gleichgesetzt. So kann die Zorn-Gottes-These von christlichen Prämissen her scharf gemacht werden – und Christus selber, als der Bringer des Schwerts, wird am Ende der Tage dem Gericht vorsitzen.
Dürfte man bei Figuren der heiligen Geschichte Kategorien wie Originalität verwenden, sie wäre jener jesuanischen Neuerung zuzusprechen, aufgrund welcher es zu einer geistvollen Umdatierung und Neuadressierung des Gottesreiches kam. Mit der entscheidend neuen Botschaft, das Reich, das kommen möge, sei in Wahrheit schon eingetroffen und habe seine Wirklichkeit ab jetzt »in uns« und »unter uns«, wurde die apokalyptische Spannung aufs bevorstehende Ende aufrechterhalten und aufgelöst, so daß die Terminfrage gegebenenfalls in die zweite Reihe zu treten vermag – wie es bei den zweiten, dritten und späteren nachjesuanischen Generationen tatsächlich geschah. Durch diese originelle Wendung wurden zuerst die Jesusgemeinde, sodann das paulinische Missionsnetzwerk, zuletzt die christliche Kirche möglich. Alle drei sind Versionen derselben Denkfigur, die in ihrer räumlichen Auslegung die These ergibt: »Die neue Welt hat sich bereits in der alten Raum verschafft«, während sie in zeitlicher Perspektive den Satz beinhaltet: »Die künftige Welt ist in der aktuellen schon gegenwärtig.« Daß die alte Welt im ganzen ihre Auflösung und den Untergang verdient, darf trotz der Konsolidierung der Kirche zu einem sakralen Establishment keine Sekunde lang aus dem Auge verloren werden. In dieser Hinsicht ist das Christentum – als Kompromißbildung aus Apokalyptik und messianischer Erfüllungslehre – nichts anderes als eine lange Einübung in die Revolution. Infolge der Verbindung präsentischer mit adventischen Motiven verschränken sich Anwesenheit und Ferne, Gegenwart und Futur auf unabsehbar folgenreiche Weise ineinander. Seither, darf man sagen, ist der Gang der Dinge im Einflußbereich dieser Vorstellungen von der Zeitgestalt des adventischen Präsentismus geprägt. Nichts kommt, was nicht in gewisser Weise schon da wäre. Nichts ist da, was nicht in gewisser Weise erst käme.
Der für den historischen Kompromiß der Christen zwischen Geduld und Ungeduld beziehungsweise Liebe undZorn zu entrichtende Preis war freilich hoch. Von seiner vollen Summe könnte sich einen Begriff nur machen, wer die Konsequenzen der christlichen Spaltung zwischen den beiden »Staaten« überblickte, die man seit Augustinus als die Gotteskommune einerseits, die irdischen Reichskomplexe andererseits zu unterscheiden gewohnt ist. Die Kosten sind im wahrsten Sinn des Wortes unbezifferbar – sie fließen über Jahrtausende auf das Konto des Widersachers ab. Der Begriff »Kirchensteuer« nimmt im Blick auf diese Leistungen eine unheimliche Bedeutung an. Er bezeichnet nicht nur die ökonomischen Aufwendungen der säkularen Gruppen für die ekklesiale Parallelgesellschaft, sondern mehr noch die psychischen Lasten, mit denen die Existenz der Kirche und ihrer transzendenten Hinterwelt erkauft wurde. Man darf hier von der teuersten Transferleistung der Weltwirtschaftsgeschichte sprechen.
Legen wir das Schema der Operation offen: Das postapokalyptische Christentum sicherte sich sein Überleben als Kirche, indem es das Milieu seines Überlebens, die Welt oder das saeculum , einer alles durchdringenden Entwertung unterwarf. Damit Gott bei der kirchlichen Gegenwelt in sein Eigentum gelangen konnte, mußte die primäre Welt einem jetzt für sie zuständigen Dämon überlassen werden – dem Diabolus, den das christliche Protokoll, wie gesehen, korrekt als den Fürsten dieser Welt anspricht. In dem von Augustinus ratifizierten Verrat an der weltlichen Welt verbinden sich Motive der Apokalyptik, der Gnosis und des Dualismus zu einem in höchstem Maße schädlichen Komplex. Wenn Voltaire eines Tages sagen konnte, die Geschichte der Menschheit sei gleichbedeutend mit Auszügen aus den Annalen der Hölle, so zog er ein elegantes Resümee aus den Folgen (oder zumindest den Nebenfolgen) der christlichen Weltpreisgabe.
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