Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Gerechtigkeit. Da Gott nicht ungerecht sein kann, ist einzuräumen, daß seine Allmacht zuweilen seine Gerechtigkeit überdeckt. So schreibt Paulus im 9. Kapitel des Römerbriefs von der überlieferten Wahrheit, Gott selbst habe das Gemüt das Pharao verstockt ( obdurare ):
    »19. Du wirst mir nun einwenden: Wie kann er (Gott) dann noch Vorwürfe machen? Denn wer kann seinem Willen widerstehen?/20. O Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst? Sagt etwa das Gebilde zum Bildner: Warum hast du mich so gemacht? 21. Oder hat nicht der Töpfer Gewalt über den Ton, aus der gleichen Masse ein Gefäß zur Ehre, das andere zur Schande herzustellen? 22. Gott, der seinen Zorn zeigenund seine Macht erweisen wollte, hat die Gefäße des Zorns, die zur Vernichtung bestimmt sind, in großer Langmut ertragen, 23. um den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen des Erbarmens zu erweisen, die er zur Herrlichkeit vorherbestimmt hat.«
    Das Doppelspiel ist offenkundig: Der Apostel braucht die Allmacht des Schöpfers, um damit die Ungleichbehandlung der Menschen zu erklären; er muß die Gerechtigkeit Gottes bemühen, wie auch seine Liebe, um die Unerträglichkeit der Allmacht zu dämpfen. Daß in diesem Hin und Her die Erklärung für den Zorn Gottes auf der Strecke bleibt, versteht sich leicht. Denn wenn unzählige Menschen zu Gefäßen des Zorns geschaffen wurden, ist dies logisch nur durch den Schluß zu rechtfertigen, der Zorn gehe seinen Anlässen oder Ursachen voraus. Gott zürnt gewissermaßen schon beim bloßen Gedanken daran, eines seiner noch unerschaffenen Geschöpfe werde ihm eines Tages den Respekt verweigern; gleichwohl erschafft er solche Gefäße der Respektlosigkeit, um ihnen dann seinen gerechten Zorn erweisen zu können. Wer dann noch fragt, wie der Zorn gegen den verhärteten Sünder sich zu regen vermag, bevor der zum Sündigen bestimmte Sünder ins Dasein trat, sollte prüfen, ob er nicht selber ein zur Zertrümmerung bestimmtes Gefäß ist.
    Die Auflösung des Rätsels ist am Vokabular des Römerbriefautors abzulesen, insbesondere dem der Verse 9, 22 und 9, 23. Mit großem Nachdruck ist dort von Gottes »Herrlichkeit« ( potentia, divitias gloriae ) die Rede, ebenso wie von seinem Willen, die eigene Macht und Herrlichkeit »bekannt zu machen« ( notam facere ) und zu »erweisen« ( ostendere ). Man muß diese Wendungen wörtlich nehmen. Das göttliche Zorngeschäft beruht demnach auf der Notwendigkeit, die Macht des Zürnenkönnens so heftig wie möglich zur Schau zu stellen. Es ist seiner Tiefenstruktur nach »ostentativ« – allein als Machtperformance, als Ruhm- und Herrlichkeitsdemonstration kann es in Gang und Geltung gehalten werden.Die Zornschau ist allerdings dazu verurteilt, als Vorspann zu einem ständig verschobenen Hauptprogramm zu laufen. Dies paßt zu einem Aspekt des Drohgebarens, das selbst bei profanen Zornäußerungen selten fehlt: Der aktuell ausgetobte Zorn neigt dazu, anzukündigen, es komme alles noch viel schlimmer. Von sich her ist der Zorn ein zum Zeigen und Beeindrucken bestimmter Affekt, und dies von der Stufe animalischer Expressivität an, was übrigens auch Seneca in De ira hervorhebt, indem er von der Ununterdrückbarkeit der physischen Zornsymptome spricht. Jede Beeinträchtigung seines inhärenten Manifestationsdrangs führt zu einer Verschiebung der zornhaften Energien.
    Im vorliegenden Fall findet eine Verschiebung von der menschlichen auf die göttliche Ebene statt. In dem Maß, wie Christen das ihnen auferlegte Zorn- und Racheverbot verinnerlichen, entwickelt sich bei ihnen ein leidenschaftliches Interesse an der Zornfähigkeit Gottes. Sie sehen ein, daß das Zürnen ein Privileg ist, auf das sie zugunsten des Alleinzürnenden verzichteten. Um so intensiver gerät ihre Identifikation mit seiner Herrlichkeit, wie sie am Tag des Zorns sich enthüllen wird. Die Christen können sich den Zorn des Höchsten nie heftig genug vorstellen, weil sie selber erst an der dies irae ihren eigenen Zornverzicht fallenlassen dürfen, um sich am letzten Schauspiel sattzusehen. Nicht umsonst sollte die Ausmalung des Jüngsten Gerichts zu der Paradedisziplin christlicher Einbildungskraft werden.
    Die beiden anderen Herleitungen des Gotteszorns aus der Gerechtigkeit und aus der Liebe Gottes führen ebenso rasch in Widersprüche und ruinöse Zirkel. Daß er sich nicht aus der Gerechtigkeit deduzieren läßt, ergibt sich aus dem simplen Hinweis auf das Prinzip der

Weitere Kostenlose Bücher