Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Kontext wäre eine detailliertere Geschichte der Höllenvorstellungen nicht am Platz. Bedeutsam istan dem Komplex der christlichen Inferno-Bilder hier nur die Tatsache, daß die zunehmende Institutionalisierung der Hölle in dem langen Jahrtausend zwischen Augustinus und Michelangelo das Motiv des transzendenten Zornarchivs zu seiner Vollendung führte. Die Aufnahme der Verstorbenen in diese große Sammlung erfolgt als metaphysische Notwendigkeit. Niemand kann künftig sterben, ohne daß das, was von ihm oder ihr übrig bleibt, einer finalen Aufbewahrungsbedingungsprüfung unterzogen würde. Die jenseitigen Lokale gliedern sich, wie Dante-Leser wissen, in drei Kategorien, Vernichtungshölle, Läuterungshölle und Paradies, und die Einweisung der Ankömmlinge in die für sie zuständige Sektion ist Ergebnis einer höchstrichterlichen Sortierung. Alle drei Abteilungen haben den Archivcharakter gemeinsam. Während die Vernichtungshölle und das Paradies statische Archive bilden, in denen die ewige Gegenwart des Zorns beziehungsweise der Seligkeit bestimmend ist, stellt die Läuterungshölle ein dynamisiertes Zwischenreich dar, in dem die große Schar der mittleren Sünder in präziser Entsprechung zu ihren sorgsam protokollierten Sündenakten durch eine siebenphasige Reinigungsfolter (den sieben Hauptsünden gemäß) geschleust werden, um schließlich das Tor zum Himmel zu erreichen.
Warum die Suche nach Gründen für den Zorn Gottes in die Irre geht – Christliche Trugschlüsse
Es überrascht nicht, wenn das neutestamentlich umcodierte Lehrstück vom Zorn Gottes schon in der Zeit der ersten Gemeinden nach Zusatzerklärungen verlangte. Da sich das Christentum in seinen frühesten Werbeschriften als Religion der Feindesliebe, der Vergebung, des Racheverzichts und der herzlichen Inklusivität präsentierte, rief der Widerspruch zwischen seiner freundlichen Verkündigung undseiner rasenden Eschatologie schon bald Irritationen hervor. Die prominente Stellung der apokalyptischen Drohreden in der Sammlung der authentischen Jesus-Worte machte den Konflikt unvermeidlich. Auch wenn man nicht mit Oswald Spengler der Meinung ist, die Worte des drohenden Jesus gäben seinen Originalton am authentischsten wider, 25 ist nicht abzustreiten, daß der apokalyptische Furor seinen Reden eine charakteristische Tönung verleiht.
So wird schon in den ältesten theologischen Urkunden der neuen Bewegung, den Paulusbriefen, alles andere als zufällig auf diese Verlegenheit eingegangen. Auch die späteren Zorn-Erklärer, an ihrer Spitze Tertullian und Lactantius, nehmen sich der Aufgabe an, den thymós Gottes beziehungsweise seine orgé mit den übrigen Eigenschaften des Höchsten kompatibel zu machen. Drei rote Fäden ziehen sich durch die gebotenen Erklärungen, Fäden, die, nach der Meinung der Autoren, nur folgerichtig abgewickelt zu werden brauchten, um völlig einsichtig werden zu lassen, warum der Gott der Christen nicht nur potentiell zornfähig ist, sondern aktuell zürnen muß. Jeder dieser Fäden entspricht einem theologischen Hauptbegriff: Der erste rollt die Implikationen der göttlichen Allmacht auf, der zweite die der göttlichen Gerechtigkeit, der dritte die der göttlichen Liebe. Aus jedem einzelnen soll, ginge es nach den Theologen, mit ausreichender Evidenz erhellen, weshalb der Zorn aus dem Spektrum der Eigenschaften Gottes nicht weggedacht werden kann.
In Wahrheit ist jedoch die Notwendigkeit des Gotteszorns innertheologisch nicht schlüssig zu formulieren. Sie ergibt sich keineswegs aus den »Eigenschaften« Gottes, von denen ohnehin, wie die negative Theologie seit jeher wußte, immer nur in uneigentlicher und analogischer Weise gesprochen werden kann. Was die Zorn-These wirklich leistet, istausschließlich durch eine Funktionsanalyse aufzuzeigen, die in einer metatheologischen Perspektive oder in der Sprache der Psychopolitologie durchzuführen wäre. Tatsächlich wird mit der Christianisierung des Gotteszorns eine transzendente Bank zur Deponierung aufgeschobener menschlicher thymotischer Impulse und zurückgestellter Racheprojekte eingerichtet, deren globales Design jenseits des Vorstellungshorizonts der Bankmitarbeiter liegt. Mehr noch: Die Funktionsweise der Bank durfte von ihren Angestellten gar nicht verstanden werden, weil diese verjenseitigten Rückzahlungsgeschäfte nur im Modus der Naivität zu betreiben waren. Sie tätigte ihre Geschäfte in Form von Sprechakten, die sowohl die Existenz des göttlichen
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