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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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wäre, das Wort »Organ« mit Ausdrücken wie »Gehirn«, »Willenszentrum« oder »besseres Selbst« wiederzugeben. Für Lukács fällt der Partei die »erhabene Rolle zu, … Gewissen seiner (des Proletariats) geschichtlichen Sendung zu sein «. 39 Die Beschlüsse der Partei sind nichts anderes als Zitate aus dem idealisierten inneren Monolog der Arbeiterklasse. Nur in der Partei hat der Zorn den Intellekt gefunden; ausschließlich der Parteiintellekt darf sich auf die Suche machen nach dem Zorn der Massen.
    Wie er fündig wurde, illustriert die Geschichte der Arbeiterbewegung seit den Tagen des Gothaer Kongresses von 1875. Bei seinem langen Marsch durch die
     Moderne sind ihm, das ist nicht bestreitbar, bedeutende Entdeckungen gelungen. Welche Mißgeschicke ihm dennoch unterliefen, erhellt unter anderem aus der
     Wahl der kommunistischen Symbole – an erster Stelle dem offiziellen Hammer-und-Sichel-Zeichen, das schon im Horizont von 1917 eine sinnlose Altertümelei
     bedeutete. Daß die emblematischen Werkzeuge des deutschen Handwerkerkonservatismus 40 auf der Flaggeder Sowjetunion erscheinen sollten, sagt genug über die Unbeholfenheit der Verantwortlichen. Das einfachste Nachdenken hätte den Einwand erhoben, daß die Industriearbeiter nicht hämmern und das Landproletariat längst keine Sichel mehr anfaßt. Fataler noch war die Symbolwahl der radikalen Linken in Deutschland, die sich in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs als »Spartakusbund« konstituierte – mit dem Namen eines gekreuzigten Gladiator-Sklaven als Aushängeschild, als habe man bewußt die Analogie zum Christentum gesucht, doch unbewußt eine Tradition der Niederlage zitiert. Nur der rote Stern des revolutionären Rußland wahrte sein Geheimnis über längere Zeit und verriet erst am Ende der sowjetischen Episode seinen apokalyptischen Ursprung als Untergangszeichen.
    Auch die Partei als »Organ« des Proletariats beruhte auf einer Großmenschfiktion zweiter Stufe. Da sie sich als »höherstufiges« Subjekt aus einzelnen entschlossenen Aktivisten konstituierte, deren Synchronie und Homogenität nie zu sichern war (wie die ständige Nötigung zu nicht nur ideologischen Säuberungen zeigte), blieb sie von einer Avantgarde der Avantgarde abhängig, die das letzte Konzentrat des Klassenbewußtseins – gleichsam ihre wahre Seele – bildete. Nach Lage der Dinge konnte dies nur den Cheftheoretiker der Revolution bezeichnen. In seinem Denken allein sollten die inneren Monologe der Partei sich authentisch vollziehen. Er stellte das wahre Ich der Arbeiterbewegung dar, sofern er als Willens- und Zornzentrum die letzte Quelle ihrer Legitimität verkörperte. Der vielzitierten Weltseele vergleichbar, die Hegel nach der Schlacht von Jena zu Pferde vorüberreiten gesehen haben wollte und die den Namen Napoleon trug, wäre der theoretisch-thymotische Kopf der revolutionären Organisation der vitale Ort in der Welt, an dem die Menschwerdung des Zorns ihre aktuelle Vollendung gefunden hätte – fürs erste also niemand anders als Karl Marx in eigener Person. Weit davon entfernt, sich durch seine vonHaß und Ressentiment geprägte Persönlichkeitsstruktur für sein historisches Amt zu disqualifizieren (wie die gewöhnliche ad hominem -Kritik am Autor des Kapitals lautet), wäre er genau mit den zur Erfüllung seiner Mission notwendigen Eigenschaften ausgestattet gewesen. Er besaß nicht nur die Luzidität und den Willen zur Macht des geborenen Führers, sondern auch Zorn genug, daß es für alle, die in seine Spuren traten, reichen sollte. Jeder Marx-Nachfolger würde sich an dem Kriterium messen lassen müssen, ob auch er oder sie imstande wäre, in gleicher Weise als Inkarnation des progressiven Weltzorns und als Focus des revolutionären Prozeßwissens zu überzeugen. Nach dem frühen Tod Rosa Luxemburgs gab es im frühen 20. Jahrhundert niemanden mehr, der Lenins Anspruch auf die Marx-Sukzession hätte anfechten können. Er war tatsächlich der Mann, den Gott im Zorn zum Politiker geschaffen hatte – um ein Wort Max Webers über den Dichter Ernst Toller auf einen geeigneteren Adressaten zu übertragen.
    Man mag diese Reduktionen des Klassenbewußtseins auf die Partei und der Partei auf ihren ersten Denker für romantische Anmaßungen halten. Sie sind es tatsächlich, doch bieten sie den Vorzug, die spekulativen Übertreibungen, die im Klassen- wie im Parteibegriff stecken, zu Ende zu denken und den Zorn wie das Bewußtsein dort zu lokalisieren, wo sie

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