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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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entziehen.« 37 Die Prinzipien dieses Selbststudiums laufen auf die Sentenz hinaus, daß man den Krieg nur durch den Krieg lernt.
    Gelangte das Klassenbewußtsein auf die Höhe seines Auftrags, müßte es in sich das vollständige Produkt aus Klassenwissen, Klassenstolz und Klassenzorn erzeugen. Der erste Faktor war nach der Überzeugung von Kommunisten wie Anarchisten schon durch die Lebenserfahrung der Arbeitenden gegeben, sosehr er auch der Vollendung durch Kampferfahrung, Selbstkritik und dialektische Theorie bedurfte. Der zweite war mit menschenrechtlichen, arbeitsanthropologischen und politökonomischen Argumenten zu wecken – sie sollten dem Proletariat helfen, den Kopf so hoch zu tragen, wie es seiner wertschöpferischen Rolle entsprach. Den dritten schließlich galt es mit propagandistischen Mitteln zu schüren und zu kanalisieren: »Das Recht, wie Glut im Kraterherde / Nun mit Macht zum Durchbruch dringt« 38 – so zeichnet die Internationale den Verlauf der thymotischen Mobilisierung bildlich vor. Sinnvolle Eruptionen ereignen sich aber nur, wenn das Proletariat lange genug in die Schule des Zorns gegangen ist. In jedem Fall setzt vollendetes Klassenbewußtsein voraus, daß die Summe aus Stolz und Wissen mit dem Zorn des thymotischen Kollektivs multipliziert wird. Das reife Ergebnis proletarischer Lernprozesse kann sich folglich nur noch praktisch, in militantem revolutionärem Aktivismus, manifestieren.
    Es erübrigt sich, im einzelnen zu erklären, warum die Vorstellung von der Produzentenklasse als einem siegreich kämpfenden Geschichtssubjekt zu nichts
     anderem führen konnte als zu einer schlechten Verwirklichung der Philosophie. Der schicksalhafte Fehler der Konzeption lag nichtallein in der abenteuerlichen Gleichsetzung von Industriearbeiterschaft und Menschheit. Er steckte noch mehr in dem holistischen oder organologischen Ansatz, wonach eine ausreichend durchgeformte Assoziation von Menschen die Leistungen und Eigenschaften eines einzelnen Menschen auf höherer Stufe zu wiederholen in der Lage sei. Die klassische Linke betrat hierdurch den Raum der Irrlichter, in dem die seit der Romantik beliebten substantiellen Kollektive und die ominösen höherstufigen Subjektivitäten ihr Unwesen treiben. Die ihrer selbst bewußt gewordene Klasse der Produzenten wäre dennach ein Großmensch – der Idealstadt Platons vergleichbar – , in dem Vernunft, Gefühl und Wille zu einer monologischen, dynamisch-personalen Einheit zusammengeschlossen sind. Die Widersinnigkeit dieser Suggestion wurde von den Vordenkern der Arbeiterbewegung zugleich bemerkt und überspielt, indem sie betonten, das Klassenbewußtsein sei in hohem Maß an das »Problem der Organisation« geknüpft. Das Zauberwort Organisation beschwor den Sprung von der Ebene der »vielen tätigen Einzelwillen« (Engels) zu der des homogen gemachten Klassenwillens. Die Unrealisierbarkeit einer effektiven Homogenisierung von Millionen spontaner Einzelwillen ist jedoch schon in der vordergründigen Anschauung so manifest, um von den prinzipiellen Gründen zu schweigen, daß der Schein der Herstellbarkeit von Klasseneinheit nur durch Ersatzkonstruktionen gewahrt werden konnte.
    Deren folgenreichste trat in Form des Leninschen Parteibegriffs auf die historische Bühne. Es ist unmittelbar einsichtig, in welcher Weise die Konzepte von Partei und Klassenbewußtsein sich gegenseitig stützten: Da das realisierte Klassenbewußtsein als Einsicht des Proletariats in seine Stellung innerhalb der sozialen Totalität von vorneherein als ein Ding der Unmöglichkeit erkennbar war, durfte und mußte die Partei sich als Stellvertreterin des empirisch noch unreifen Kollektivs präsentieren. Folgerichtig vertrat die Partei denAnspruch auf »Führung der Geschichte«. Da aber die Avantgarde ohne Aussicht auf die Gefolgschaft der Massen von ihrer »Basis« abgeschnitten bliebe, hatte sie die Fiktion von der prinzipiellen Vollendbarkeit des Klassenbewußtseins bei den Geführten unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Die praktische Folgerung lautet somit: Allein die Partei verkörpert das legitime Zornkollektiv, sofern sie stellvertretend für die noch nicht urteils- und operationsfähigen »Massen« das Gesetz des Handelns an sich zieht. Die Partei ist somit das wahre Ich des bis auf weiteres entfremdeten Arbeiterkollektivs. Nicht umsonst schmückt sie sich gern mit dem schillernden Titel »Organ des gesamten Proletariats« – wobei man jederzeit berechtigt gewesen

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