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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Gleichwohl war Mao für Moskau im Grunde stets ein peinlicher Partner, weil er durch seine Erfolge das Geheimnis des kriegerischen Voluntarismus ausplauderte, der auch Lenins Initiativen von Anfang an geprägt hatte. Wer Mao ernst nahm, begriff früher oder später, daß die Oktoberrevolution nur ein Staatsstreich gewesen war, der sich nachträglich als Revolution qualifizieren wollte. Mao seinerseits war der Dramaturg eines vorbildlosen Bauernkrieges, der in der Übernahme der Macht durch einen Bauerngeneral gipfelte.
    Nach dem Sieg der chinesischen Roten Armee mußte Maos mobilisatorische Psychotechnik an ihre Grenzen stoßen, weil der Aufbau eines Staates und einer modernen Wirtschaft, sei sie hierarchisch-staatlich oder eigentumswirtschaftlich-unternehmerisch verfaßt, völlig anderen Regeln folgt als jenen, mit denen man thymotisch profilierte Kampfgemeinschaften in eine siegverheißende Weißglut treiben kann. Die Geschichte des Staatsmanns Mao Zedong ist konsequenterweise als Bericht von den Mißerfolgen eines exzessiven Mobilisators wiederzugeben. Tatsächlich blieb der Stratege Mao auch nach 1949 davon überzeugt, die Prinzipien seiner Totalguerilla seien mehr oder weniger unverändert auf die blitzartigeSchaffung einer chinesischen Industrie übertragbar. Aus diesem Trugschluß ergab sich die Sequenz von Ereignissen, die von dem ominösen »Großen Sprung nach vorn« (1958-1961) zur Großen Kulturrevolution (1966-1969, de facto bis zu Maos Tod 1976) und schließlich zur höflichen Marginalisierung des Großen Steuermanns führte.
    Als Leiter der Nationalbank revolutionärer Affekte war Mao nach der Schaffung der Volksrepublik davon überzeugt, über unbegrenzten Kredit zu verfügen, wenn es ihm gelang, das bewährte Amalgam aus Zorn, Verzweiflung und revolutionärem Stolz zusammenzubringen, das ihm während der Bürgerkriegsära immer von neuem die erstaunlichsten Dienste erwiesen hatte. Um die Industrialisierung Chinas voranzutreiben, gab er im Jahr 1958 die Losung »Der Große Sprung nach vorn« aus, von welcher jeder unabhängige Betrachter erkannte, daß sie nichts anderes anordnete als die mutwillige Psychotisierung des ganzen Landes. Was China jedoch schon damals auszeichnete, war die Liquidierung jeder Form von interner unabhängiger Beobachtung, so daß Maos Launen und Aussprüche für 600 Millionen Menschen tägliches Gesetz und ewige Wahrheiten bedeuteten.
    Unter diesen Bedingungen ließ sich die größte Eulenspiegelei in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit als Ausfluß hoher Geniepolitik präsentieren: Ein riesiger Propagandaapparat warb jahrelang für die Idee, es fördere das Wohl Chinas und seiner glorreichen Revolution, wenn – gleichzeitig mit der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft – die Eisenproduktion von den Städten in die Dörfer verlagert werde. Hunderte von Millionen ahnungsloser, staunender und widerwilliger Bauern wurden in unvertrauten Kooperativen zusammengezwungen. Das Ergebnis: Ihre Motivation und Arbeitsfähigkeit erlahmten jäh. Zugleich sahen sie sich über Nacht vor die Aufgabe gestellt, primitive Hochöfen zu errichten, um mit lokalen Methoden die Stahlerzeugung des Landes zu steigern – damals einer der wichtigsten Indikatorenvolkswirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Das offiziell verkündete Ziel lautete, die Pro-Kopf-Produktion Englands binnen fünfzehn Jahren zu übertreffen. Die Ergebnisse dieser frenetischen Aktivitäten, deren Nutzlosigkeit sich schnell erwies, wurden in abgelegene Deponien geschafft und zu Bergen aufgetürmt – sollte es je in China eine Entmaoisierung geben, müßte man diese versteckten surrealistischen Rostgebirge zum Weltkulturerbe erklären. (Eine Entmaoisierung Chinas bleibt freilich eine unplausible Hypothese: politisch, weil Mao Zedongs Ikone auch für die aktuelle und künftige Führung des Landes ein unentbehrliches Integrationsmittel darstellt; kulturell, weil der ungebrochene Sinozentrismus eine Aufklärung von Chinesen über ihre eigene Geschichte durch besser informierte Auslandschinesen oder Nicht-Chinesen fast kategorisch verweigert. 79 Andererseits ist eine förmliche Entmaoisierung nicht mehr an der Tagesordnung, weil China mit seiner neuen Wirtschaftspolitik den Träumen und Albträumen der Mao-Zeit faktisch seit langem den Rücken gekehrt hat.)
    Der von den Führern sehr bald erkannten völligen Sinnlosigkeit dieser Art von Produktion zum Trotz ging die Mobilisation der Arbeitenden unaufhörlich weiter.

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