Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Filmbilder aus jener Zeit zeigen zahllose chinesische Landarbeiter vor einem endlosen Horizont, in einem hektischen Ballett zwischen rauchenden Öfen hin- und herjagend. Die Vernachlässigung der Landwirtschaft wurde von Mao und seinen Getreuen als unvermeidliche Nebenfolge dieser Neufestsetzung der Prioritäten in Kauf genommen. Die Burleske des Großen Sprungs kostete aktuellen Schätzungen zufolge zwischen 35 und 43 Millionen Menschen das Leben (nach konservativeren Berechnungen um 30 Millionen); in manchen Provinzen starben vierzig Prozent der Bevölkerung durch Hunger und verordnete Erschöpfung. Man hat es hier mit dem einzigen Fall einer massiven Vernichtung von Menschen durch Arbeit zu tun, die zu ihrer Durchführung nicht einmal auf die Errichtung von Lagern angewiesen war. Daß die chinesische Führung zugleich auf der Schaffung eines eigenen Gulag bestand, bezeugt die Regel, daß kein Faschismus, einmal an der Macht, sich die Genugtuung entgehen läßt, seine Gegner durch entmenschende Zusammenpferchung zu zerbrechen. 80
Es dauerte mehrere Jahre, bis die Parteiführung bereit war, den Fehlschlag der Kampagne einzugestehen – man fand bis fast zuletzt niemanden, der das
Wagnis auf sich nehmen wollte, Mao direkt über seine Mißgriffe aufzuklären. Ausnahmen waren nur der Marschall Peng Te-huai, der angesichts des offenen
Debakels schon auf der Konferenz von Lushan im Sommer 1959 Mao persönlich angriff (um gleich darauf aus dem Verkehr gezogen zu werden), und einige
Schriftsteller, die umgehend scharfen Repressalien zum Opfer fielen. Die übrigen Mitglieder der Führungskader schwiegen oder zogen sich in diplomatische
Krankheiten zurück, um Mao bei den kritischen Konferenzen aus dem Weg zu gehen. Dieser selbst soll, diskret auf die hohe Zahl der Opfer seiner Direktiven hingewiesen, gesagt haben, auch diese Toten könnten nützlich sein, da sie die Erde Chinas düngten.
Die letzte Kulmination erreichte Mao Zedongs mobilisatorische Technik zwischen 1966 und 1969, als der inzwischen an den Rand gedrängte Führer die Macht wieder an sich ziehen wollte, indem er ein neues, leicht aktivierbares Zornkapital ausfindig machte. Ähnlich wie Stalin, der durch die Erschließung gewaltiger Ressentimentreserven einen Pseudoklassenkampf zwischen den Ärmsten und den nicht ganz so Armen unter der bäuerlichen Bevölkerung der Sowjetunion inszenierte, entdeckte Mao in seinem Reich einen neuen »Klassengegensatz« – zwischen den Jugendlichen und den Älteren, wahlweise den zwischen den lebendigen Elementen der Bewegung und denen der bürokratischen Erstarrung. Die mutwillige Verschärfung dieses »Gegensatzes« sollte Mao helfen, auf sein Konzept der Totalguerilla noch einmal zurückzugreifen. Offenkundig eignete sich seine quasi naturphilosophische Doktrin vom ewigen Krieg der Gegensätze dazu, jede strukturell bedingte soziale Differenz zum Ausgangspunkt eines zum Klassenkampf deklarierbaren Bürgerkriegs zu machen – zehntausend Fuß jenseits der Konfrontation von Arbeit und Kapital. Hiermit erwies sich der Große Steuermann bis zum bitteren Ende der Kulturrevolution als das, was er von Anfang an gewesen war – ein nationalistisch gesinnter Kriegsherr mit linksfaschistischen Grundsätzen und kaiserlichen Ambitionen. Er blieb der Mann, der immer neue Kampfvorwände brauchte, um sich an der Macht zu halten – und der jeden solchen Vorwand mühelos fallenließ, sobald die Umstände es erlaubten oder forderten.
Es genügte Mao, ein beliebiges neues Ressentimentkollektiv zu identifizieren, um es auf seinen designierten Feind zu hetzen – schon konnte man den Konflikt als die aktuelle Gestalt des »Klassenkampfs« ausgeben. Daß eine »Klasse« erst in ihrem Kampf oder ihrer Bekämpfung entsteht –dieser strategische Lehrsatz der wendigen Linken sollte sich aus gegebenem Anlaß eklatant bewahrheiten. Für diesmal wollte Mao den Apparat der Partei um Liu Shao-chi zerschlagen, der es gewagt hatte, ihn nach dem Debakel des Großen Sprungs an den Rand zu drängen. In der chinesischen Lehre von den strategischen Listen figuriert die hierzu gewählte Prozedur unter dem Titel: »Den Feind mit einem fremden Messer töten.« 81 Das Instrument fand Mao in einer Flut von in Furor versetzten Jugendlichen, die auf den Ruf des Führers hin ihre Schulen und Universitäten verließen, um sich, wie entfesselte Wandervögel, physischen und psychischen Terror verbreitend, über das ganze Land zu ergießen. Das Stichwort für
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