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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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dieses rebellische Ausschwärmen der Jugend auf die Dörfer hieß wieder einmal Verbindung von Theorie mit Praxis.
    Man erinnert sich an die Bilder von den Pekinger Begegnungen Maos mit jeweils mehr als einer Million euphorisierter Studenten und Rotgardisten aus allen Provinzen, denen er sein Verständnis aussprach für die Übergriffe, die er von ihnen erwartete. Die blutigen Folgen der revolutionären Kommunionen zwischen dem Halbgott und der Menge blieben nicht aus. Ist es nicht immer der Sinn solcher Versammlungen, daß das Volk Gelegenheit erhält, die Gedanken des Fürsten zu lesen? Zu den prägenden Szenen der Kulturrrevolution gehörten die öffentlichen Demütigungen von Gelehrten, die mit Schandhauben auf Plätze gejagt, geprügelt, zu Selbstbezichtigungen gezwungen und in zahllosen Fällen ermordet wurden. Noch heute findet man auf den Trödelmärkten Pekings Keramikskulpturen im sozialistisch-realistischen Stil jener Zeit, die einen knienden Professor unter dem Stiefel einer Rotgardistin zeigen, ein Schild um den Hals, das die Aufschrift trägt: »Ich bin eine stinkende Nummer neun« – was heißen soll: ein Intellektueller.
    Man tut gut daran, nicht zu vergessen, daß die philosophische Fakultät der Universität von Peking im Jahr 1966 ihr Fach in »Mao-Zedong-Denken« umbenannte. Für die Betreiber der europaweiten Vereinheitlichung der Studienordnungen an den Universitäten und Kunsthochschulen der EU (des sogenannten Bologna-Prozesses) sei angemerkt: Unter den Zielen der chinesischen Kulturrevolution wurde die Verkürzung der Studienzeiten genannt. Es dauerte volle vier Jahre, bis an Chinas Schulen wieder ein regulärer Studienbetrieb möglich wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatten nach jüngeren Schätzungen bis zu fünf Millionen Menschen ihr Leben verloren. Noch ein Jahrzehnt lang litt Chinas Wirtschaft unter dem Ausfall mehrerer Studentenjahrgänge.
    Die holocaustartigen Rasereien der Kulturrevolution – von westlichen Beobachtern zu größeren Unruhen verharmlost – ereigneten sich
     in relativer Gleichzeitigkeit mit den Studentenbewegungen von Berkeley, Paris und Berlin, wo es auch überall engagierte Gruppen gab, die das wenige, was
     sie über die Ereignisse in China und ihre Ursachen wußten, für einen zureichenden Grund hielten, sich als Maoisten zu präsentieren. Manche koketten
     Maoverehrer von damals, die sich wie üblich seit langem selbst verziehen haben, sind bis heute als politische Moralisten aktiv. Ins Memoirenalter
     gekommen, stellen sie, nicht ganz zu Unrecht, den westlichen Maoismus und ihre Teilnahme an seinen performances als eine traurige Spätform des
     Surrealismus dar. 82 Andere halten es für unter ihrer Würde, sich zu vergeben, und verkünden weiter ihre Überzeugung,
     sie hätten im Grunde recht behalten – allein der Gang der Dinge habe (zumal nach dem »Thermidor« des tückischen Deng) die falsche Richtung eingeschlagen,
     umeinmal mehr die »Restauration« ans Ruder zu bringen. 83 Um 1968 schien Paris fest in der Hand des radikalen Feuilletons, das in der Person von Präsident Pompidou, eines Mannes der rechten Mitte, den Rechtsradikalismus an der Macht sah – und das aus seinen Sympathien mit den Vorgängen in China, dem Land der Wandzeitungen, der Mao-Bibel und der Abschlachtung von Gelehrten, kein Geheimnis machte. Wieder einmal vermochte das mal français , die Einteilung der Welt in Revolution und Restauration, eine globale Epidemie auszulösen, obwohl sie sich überwiegend auf akademische Kreise beschränken. Als infolge des politischen Tauwetters im Jahr 1972 erstmals ein amerikanischer Präsident die Volksrepublik China besuchte, waren viele Angehörige der Neuen Linken in Europa und Amerika entsetzt bei dem Gedanken, eine Lichtgestalt wie Mao Zedong könne einem Schurken vom Schlage Richard Nixons die Hand schütteln. In demselben Jahr brachte André Glucksmann in Les temps modernes seine Ansicht zum Ausdruck, Frankreich sei eine faschistische Diktatur.
    Die hohe Schule der Unbelehrbarkeit fand ihren Meister in Jean-Paul Sartre, der aus der Einfühlung in die revolutionäre Gewalt seit längerem ein selbstquälerisches Exerzitium gemacht hatte. Und doch: Auch er war nicht mehr als ein eminenter Vertreter einer Generation von Fakiren, die sich auf dem Nagelbrett der Selbstunterbietung quälten, um für ihre Zugehörigkeit zum Bürgertum zu büßen. Noch heute ist es für Europäer mit einem Rest an historischem Taktgefühl schmerzlich, die Bilder aus

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