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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Weltveränderer von damals erst noch suchen mußten. Er ist der Mensch, der seinen Kampf gefunden hat. Sein modus vivendi ist das Durchdrungensein von einer Motivation, die jede Mehrdeutigkeit vertilgt. Wer für die Rache lebt, besitzt jenes einfache, unwiderlegliche Um-zu, das nach Kierkegaard den Apostel vom Genie unterscheidet. 86 Denn wenn dieses immer erneut auf Einfälle warten muß – und Einfälle sind launisch genug, um bei jeder Gelegenheit die Richtung zu wechseln –, weiß jener ein für alle Mal, was zu tun ist. Was die Junghegelianer auf der anderen Seite des Rheins zur selben Zeit in philosophischen Ausdrücken postulierten, wurde von Alexandre Dumas für die Welt des Romans mit allen Konsequenzen wahr gemacht. Der Graf von Monte Christo lieferte das französische Pendant zu den Marxschen Thesen über Feuerbach. Durch einen großen erzählerischen Apparat entfaltete diese Geschichte den Satz: »Die Erniedrigten und Beleidigten haben bisher den Schurken dieser Welt gegenüber nur unter verschiedenen Vorwänden Nachsicht geübt; es kommt darauf an, sich an ihnen zu rächen.«
    Der Übergang zur agierten Rache setzt voraus, daß fürden Rächer von Anfang an feststeht, wo er die Übeltäter suchen soll. Dumas bleibt diesem Gesetz der großen Rachegeschichte nichts schuldig. Seine Bösewichter sind seit dem ersten Tag der Handlung präzise identifizierbar – alle tragen sie die Gesichter der herrschenden Klasse in der Ära des Bürgerkönigtums. In gewisser Weise sind sie durchwegs »Charaktermasken des Kapitals« – doch ist ihre Schuld in keinem Fall auf ihre Klassenlage zu reduzieren. Angeführt wird die Reihe von dem kleinen Halunken Caderousse, der beim Verrat an Dantès die Rolle eines Zwischenträgers gespielt hatte – er verkörpert den Typus des ewigen Handlangers, der unter allen Regimen seinen Vorteil wittert, gleich ob in Francs, in Rubel oder in Dollar. Auf ihn folgt die Figur des korrupten Richters Villefort, der von der Unschuld des Angeklagten wußte und ihn dennoch, um die eigene Karriere nicht zu gefährden, zu immerwährender Festungshaft verurteilte – auch er ein Inbegriff des zeitlosen Opportunisten, bei dem es nicht verwundert, wenn ihm der Aufstieg zum Amt des Generalstaatsanwalts gelang. Und schließlich die beiden unmittelbaren Autoren des Komplotts gegen den jungen Kapitän, Fernand und Danglars, von denen der eine aus Eifersucht, der andere aus Karriereneid die bösen Pläne geschmiedet hatte. Der erste hat es unter Louis Philippe bis zum General gebracht, der zweite zum saturierten Bankier, geschmückt durch einen gekauften Adelstitel. Das Spektrum dieser Karrieren ist lehrreich: Im Unterschied zur Zeit der bourbonischen Reaktion sind die Arrivisten der Julimonarchie nicht mehr durch die fatale Alternative von Rouge und Noir gefesselt. Die Zahl der guten Positionen hat sich dramatisch vermehrt, die Stadt Paris vibriert von neuen Chancen. Die Wege nach oben haben sich so sehr vervielfacht, daß erstmals in der Geschichte des alten Europa eine Mehrheit von neuen Leuten zur Spitze vorgedrungen ist.
    In den Portraits dieser Figuren gibt der Romancier der Überzeugung Ausdruck, das Böse in den Beziehungen zwischenMenschen entspringe letztlich nicht aus den sozialen Strukturen, sondern aus den Herzen der korrupten Einzelnen. Gegen die zeitlose Infamie vermag keine politische Umwälzung etwas auszurichten – allein die ruhig bis zum Ende vollzogene Rache erlaubt, das gestörte Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen. Daher fällt der populären Literatur die Aufgabe zu, den Zorn der Benachteiligten zu entpolitisieren und ihn auf seine »natürlichen« Objekte, die präzise identifizierten Schurken, zu lenken. Die wahre Satisfaktion, wenn man dem Evangelium nach Monte Christo glauben darf, liegt nicht im Sieg eines Kollektivs aus Erniedrigten und Beleidigten über seine alten Herren. Sie gelingt ausschließlich infolge der Rache eines auserwählten Opfers an denen, die ihre Hand an sein Leben gelegt hatten.
    Nur ein einziges Mal, auf dem Höhepunkt der Rachehandlung – von Dumas mit Bedacht bis zum Schluß der Handlung aufgespart –, bricht in die Abrechnung des Grafen mit seinen Feinden ein Hauch von klassenkämpferischer Spannung ein. Dantès genügt sich am Ende seines Missionswerks nicht damit, den Bankier Danglars durch manipulierte Börsenoperationen zu ruinieren; er muß seinen Feldzug bis zur Vernichtung der kapitalistischen Persönlichkeit als solcher vorantreiben.

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