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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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dem Jahr 1970 wiederzusehen, die einen der größten Intellektuellen des Jahrhunderts, den Verfasser von Das Sein und das Nichts und der Kritik der dialektischen Vernunft , zeigen, wie er sich als Straßenverkäufer für ein radikalkonfuses Erbauungsblättchen dermaoistischen Gauche prolétarienne betätigte, um für die, wie es hieß, bedrohte Freiheit der Andersdenkenden in Frankreich einzutreten.
    Solche Momentaufnahmen gehörten in die Schlußphase eines Lernzyklus, der zweihundert Jahre überspannte. In seinem Verlauf suchte die europäische Linke, ermüdbar und unermüdlich, nach Verfahren, dem Zorn der Benachteiligten eine Sprache zu schaffen, die zu angemessenem politischem Handeln führen sollte. Je grotesker die Bilder, desto deutlicher geben sie einen Begriff davon, in welche Tiefen die Unverträglichkeit zwischen dem Zorn und dem Prinzip der Angemessenheit reicht. An ihnen wird das Paradoxon revolutionärer Politik schlechthin faßbar. Seit jeher arbeitet diese sich an der Aufgabe ab, das Maß für etwas zu ermitteln, was von sich her dem Zug ins Maßlose folgt.

Die Botschaft von Monte Christo
    Drei Jahre vor dem Erscheinen des Manifests der Kommunistischen Partei im Februar 1848 war die französische Öffentlichkeit von einem Romanfieber ergriffen worden, das sie über nahezu anderthalb Jahre in Atem hielt. Vom August 1844 bis zum Januar 1846 entrollte sich vor den Augen eines verzauberten und unersättlichen Publikums die größte Rachefabel der Weltliteratur, ein Erzählwerk in Form eines Feuilletonromans von einhundertfünfzig Folgen des Journal des débats , das sich in der Buchfassung von 1846 über mehr als eintausendfünfhundert Seiten erstreckte. Was Hegel zufolge im modernen »Weltzustand« nicht mehr möglich ist: der Auftritt eines Helden, dessen Lauf durch die Welt per se das Epos ergibt – hier lag es in der evidentesten Weise noch einmal vor, wenn auch nur in der künstlerisch wenig respektablen Gestalt des Unterhaltungsromans. Die Massenkultur machte möglich, was der Hochkultur längstverboten war – eine moderne Ilias , deren Held, ein junger Seemann aus Marseille, der von Neidern und Karrieristen denunzierte Edmond Dantès, vierzehn Jahre unschuldig in den vom Meer umspülten Felsenverliesen des Château d’If verbrachte, um nach seiner Befreiung ausschließlich für die Erfüllung seiner feierlichen Racheschwüre zu leben. Sein Martyrium hatte während Napoleons Elbaaufenthalt 1814 begonnen – der Weg des Auferstandenen führte, nach einem Jahrzehnt des regenerativen Rückzugs, der Reisen und der Rachevorbereitungen, in das Paris des Jahres 1838, zur höchsten Blütezeit der Julimonarchie, als die großbürgerliche Finanzwelt endgültig der alten Aristokratie das Ruder aus der Hand genommen hatte.
    Titel und Handlungsverlauf des Romans ließen keinen Zweifel daran, daß Dumas die Geschichte eines Messias erzählen wollte, der wiederkehrte, um Rache zu üben. Nicht umsonst trägt die Schrift von Edmond Dantès’ spirituellem Mentor und Verlies-Gefährten, dem Abbé Faria, die der Held am Ende seines Feldzugs im einstigen Gefängnis wiederfindet, das zorntheologische Motto: »Du wirst dem Drachen die Zähne ausreißen und die Löwen mit Füßen treten, hat der Herr gesagt.« 84 Seinem Schwur getreu, will der mysteriöse Graf eine Demonstration liefern, »wieviel in unseren modernen Zeiten ein Mann mit einem Vermögen von dreizehn oder vierzehn Millionen seinen Feinden Böses zufügen könnte«. 85
    Als Meister der Massenunterhaltung war der Romancier zu der Einsicht gelangt, daß nichts die Phantasie des großen Publikums so heftig anspricht wie die
     profanierte Heilsgeschichte. Vielleicht war Dumas der erste, der die metaphysische Mission der Massenkultur darin sah, den Mythos derWiederkehr vom Himmel auf die Erde zu versetzen. Aus dem Zorn Gottes sollte die menschliche Rache werden – und aus dem Warten auf die jenseitige Vergeltung eine diesseitige Praxis, hinreichend kühl, um mit Umsicht ans Ziel zu gelangen, doch auch heiß genug, um von der Forderung nach Genugtuung nicht im mindesten abzulassen. Hier wurde die Rache unverhüllt als das beschrieben, was sie ihrer thymotischen Natur nach seit je bedeutet – als die Behebung des unerträglichen Mangels an Leiden, der in einer Welt voll ungesühnten Unrechts herrscht.
    Aus dieser Sicht verkörpert Edmond Dantès die Weltseele der Bürgerzeit. Ihm ist in klarer und einfacher Evidenz gegeben, wonach die politischen

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