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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Damit nimmt Monte Christo stellvertretend Rache am Geist der Bürgerzeit im ganzen. Danglars wird auf Geheiß des Grafen von einer Bande italienischer Räuber unter dem Kommando eines gewissen Luigi Vampi gefangengenommen – eines pittoresken Banditen, der in seiner freien Zeit Plutarchs Leben Alexanders liest, was wohl auf einen Studienabbrecher schließen läßt. Höflich und bestimmt wird der Bankier, der den Sinn seiner Entführung nur mit Mühe begreift, in einer entlegenen Höhle festgehalten. Erst allmählich geht ihm ein Licht über seine Lage auf: In seiner Zelle ist der Gefangene darauf angewiesen, sich von Gerichten auf »Luigi Vampis Speisekarte« zu ernähren. Für jedes Gericht des alternativen Restaurants ist ein gewisser Preis zu bezahlen,»wie dies sich bei allen ehrlichen Christen versteht« – die Preise sind jedoch auf absurde Summen festgesetzt, so daß der Geizhals, vom Hunger gemartet, sich genötigt sieht, sein gesamtes Vermögen, bis auf einen symbolischen Rest, für den täglichen Lebensunterhalt auszugeben, fünf Millionen Francs in zwölf Tagen – ein Betrag, von dem berichtet wird, er sei vom Grafen sofort an Hospitäler und Armenhäuser weitergegeben worden.
    Wer als bewegter Leser den Untergang Danglars’ mitvollzieht, begreift, wie sehr Marx unrecht hatte, wenn er behauptete, das Proletariat habe keine Ideale zu verwirklichen. 87 Es gibt einen proletarischen Idealismus, der sich im Sinn für die geglückte Rache ausspricht. In solchen Fällen wird – wie bei dem volkstümlichen Ruf nach der Todesstrafe – die bis zum Ende ausgeübte Grausamkeit als Verwirklichung einer erhabenen Mission empfunden.
    Mit diesen genußreich ausgemalten Szenen überschreitet das Verlangen nach Rache die Schwelle, jenseits welcher keine Steigerung mehr in Aussicht
     steht. Wenn Danglars nach kaum zwei Wochen, weißhaarig geworden, aus seinem Verlies ins Freie taumelt, ist alles geschehen, was unter den Auspizien des
     irdischen Gerichts zu erreichen war. Die höchste Satisfaktion wird von der Zerstörung des bourgeoisen Charakters gewährt. Durch sie wird das Prinzip der
     korrupten Karriere als solches offengelegt, und der Karrierist erleidet seine wohlverdiente Strafe. Studiert man die Speisekarte des Räubers so
     aufmerksam, wie ihr dies als einer gastronomischen Gestalt des contrat social gebührt, wird evident, daß sie nichts anderes als einen populären
     Kommentar zum Begriff der Ausbeutung darstellt. Durch die Umkehrung derAusbeutungsrichtung ließ der Romancier aus dem Millionär einen armen Teufel werden, der am eigenen Leib erlebt, was es bedeutet, wenn man sein Leben um der nackten Selbsterhaltung willen Tag um Tag auf den Markt trägt. Er muß nicht seine Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben, sondern seine Kaufkraft opfern, um das Verhungern abzuwenden. Die Moral der Szenen liegt auf der Hand. Sie lautet: Jeder Blutsauger lebt mit dem Risiko, früher oder später einem Vampir höherer Ordnung zu begegnen.
    Die entscheidende Botschaft von Monte Christo zielt darauf, die Herrschaft des Kapitals über das Begehren der Bürger insgesamt außer Kraft zu setzen. Dieser Wechsel soll nicht durch die Expropriation der Produktionsmittel geschehen, wie die marxistische Vulgata wollte, vielmehr durch den Fund eines Schatzes, der selbst den größten Reichtum aus Industrie- und Bankgeschäften in den Schatten stellt. Die Losung heißt: zurück zum Schatz – nicht: vorwärts zur Enteignung der Expropriateure! So erweist sich die Schatzsuche gegenüber Arbeit, Profit und Umverteilung als das tiefere Phänomen. Mit dieser Demonstration verlassen wir die politökonomische Szene und tauchen in die Welt des Märchens zurück. Werden aber die tieferen Schichten jeder Kritik der politischen Ökonomie nicht immer nur von der Kritik des Bereicherungsmärchens berührt? Beruhen nicht alle Geldphantasien auf dem Motiv, daß der Held einen Weg finden soll, wie man seine Mittel verausgabt, ohne an Liquidität zu verlieren? Dem wahren Liebling der Fortuna darf das magische Manna selbst dann nicht fehlen, wenn er es mit vollen Händen unters Volk gebracht hat. Ebendiesen Effekt verkörperte der mysteriöse Graf, seit er begonnen hatte, wie ein orientalisches Phantom durch die Gespräche der Pariser Gesellschaft zu spuken.
    Es kommt nicht wirklich überraschend, wenn eine solche Geschichte mit einer frommen Lüge endet. Nachdem der Graf alle offenen Rechnungen beglichen und die Urheberseiner Leiden der Reihe

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