Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Zukunftsfähigkeit des Spiels wohl etwas weniger glänzend steht, als seine Exegeten zu behaupten nicht müde werden. Es genügt, die allgegenwärtige Vokabel sustainability wie ein neurotisches Symptom zu lesen, um den Selbstzweifel des status quo am kritischen Punkt zu fassen. Wie das Wort beweist, besitzen die nachdenklicheren unter den Wirtschaftsexperten der Gegenwart schon einen präzisen Begriff davon, was mit dem Wesen des Systems nicht verträglich ist.
    Tatsächlich stellen auch Nicht-Ponzi-Systeme (also die regulären Volkswirtschaften im besonderen und die Weltwirtschaft im allgemeinen) Ungleichgewichtssysteme dar, die stets ein beträchtliches Maß an interner Gefährdung zu verarbeiten haben. Der konsolidierte Kapitalismus kann die ihm innewohnenden Kollapstendenzen (deren erste Manifestation die von Marx beschriebenen Überproduktionskrisen waren) nur durch die ständige Flucht nach vorn kompensieren. Was den heutigen Kunden als Beweis gediegener Geschäftsprinzipien gilt, geht auf die Verfeinerung der Steuerungsinstrumente zurück, deren Schlüsselmechanismus in der »Zentralbankkunst« 10 gesehen werden muß. Über diese läßt sich simplifizierend sagen, sie laufe auf ein Verfahren zur Seriösmachung des Unseriösen hinaus – anders ausgedrückt, auf eine Technik der Zusammenbruchsverlangsamung. Mittels Hebung und Senkung der Primärzinsen widmet sich die Zentralbank der Aufgabe, die systemeigenen Kollapsrisikenzu minimieren, indem sie den vom Zins erzeugten Stress auf einem konjunkturell tragbaren Niveau justiert. Bei ihren Regulierungsentscheidungen orientiert sie sich an den aktuellen und erwartbaren Ergebnissen der realwirtschaftlichen Anstrengungen, sprich: an der Summe der Effekte aus Marktausweitung, Produktinnovation und Produktivitätssteigerung. In diesem Kontext bedeutet das vielbeschworene »Anspringen der Konjunktur« nichts anderes als die Verringerung des Insolvenzrisikos für die kreditbelasteten Einheiten. Bei sachgerechter Aussteuerung muß der Druck der Schuldenbedienung auf allen Stufen des ökonomischen Geschehens dem Gesamtsystem nicht zum Verhängnis werden, obschon permanent zahlreiche Unternehmen und Privathaushalte abstürzen. Aufs Ganze gesehen treibt der Schuldenstress den geldwirtschaftlichen Prozeß zu immer neuen Verjüngungen und Steigerungen voran.
    Der Expansions- und Innovationszwang, durch den sich die kapitalistische Produktionsweise auszeichnet, geht somit auf den kunstgerecht eingedämmten,
     jedoch nie völlig eliminierbaren Ponzi-Faktor innerhalb des Gesamtsystems zurück. 11 Der
     kapitalistisch-geldwirtschaftliche Komplex bildet ein weltumspannendes Netzwerk von Operationenzum Versetzen von Schuldenbergen. Doch selbst das bestkompensierte Ponzi-System kann längerfristig nicht mehr leisten, als den Augenblick seiner Entzauberung auf unbestimmte Zeit zu verzögern – spätestens bis zu dem Moment, in dem der Weg der Expansion versperrt ist, weil alle neuen Mitspieler, die akquiriert werden könnten, dem Spiel schon beigetreten sind. Davon mag die aktuelle Welt noch eine gute Strecke entfernt sein, so daß eine finale Hektik vorerst nicht gerechtfertigt ist. Die Unbestimmbarkeit des Enttäuschungsmoments darf von den Teilnehmern des Spiels noch mit einem gewissen Maß an Berechtigung als prinzipielle Offenheit der Zukunft interpretiert werden. Gleichwohl sollte man die Klienten vorsorglich auf das Votum einer Expertenminderheit hinweisen, dem zufolge der Offenheitseffekt – der Anschein unbegrenzter Fortsetzbarkeit des Spiels zu den gegenwärtigen Bedingungen – kaum noch länger als wenige Jahrzehnte erzielt werden kann. Andere Interpreten geben dem Spiel deutlich mehr Zeit, zumal jene, die optimistisch genug sind, das Ende der fossilen Energien erst ins 22. Jahrhundert zu datieren.
    Was die psychologischen Annahmen Charles A. Ponzis angeht, so sind sie in den nahezu einhundert Jahren, die seit seinem Bostoner Coup von 1919 vergangen sind, in keiner Weise falsifiziert worden. Man darf wohl annehmen, daß sie die Psychomotorik der kapitalistischen Wirtschaftsweise insgesamt mit hoher Treffgenauigkeit charakterisieren. Tatsächlich bleibt selbst für die moralisch unauffälligen und ökonomisch soliden Manifestationen des Systems ein gewisses Maß an gierdynamischen Grundentscheidungen unverzichtbar. Diese treiben starke Expansionstendenzen an, die in die Lebensformen der Trägerkulturen, technischer gesprochen in die psychosemantischen Haushalte der

Weitere Kostenlose Bücher