Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Mitspieler, immer tiefer eingreifen – in der Regel auf dem Umweg über die Kulturmedien Roman, Theater, Film und Fernsehen. Die Medien erzeugen synergetisch ein Klima fortgehenderLiberalisierung – und dieses setzt sich aller Erfahrung nach à la longue auch gegen konservative Reaktionen durch. In diesem Kontext kommt der Rezeption moderner Kunst eine systemisch kaum zu überschätzende Bedeutung zu, da sie mit ihrem konsequenten Everything-goes -Training wie ein Ausbildungzentrum für Avantgardekonsumismus fungiert. Was Avantgarden vormachen, tun in der Regel kurz darauf die »Massen« nach.
Weil die quantitativen Ausweitungen der Geldprozesse von qualitativen Veränderungen der Lebensformen nicht zu trennen sind, müssen sich Ensembles von kapitalistischen Spielern kulturell auf ein permanent revisionistisches Klima einstellen. Was man seit 1800 den Zeitgeist nennt, ist ohne die Mitwirkung des Geldgeists nicht zu denken. Sosehr man auch in den konservativen Milieus die Polarität von Geld und Geist als Antithese stilisieren wollte, hat sich aufs Ganze gesehen die Konvergenz der Pole durchgesetzt. Man redet von der eigenen Zeit, damit man mit ihr gehen kann. Die Anpassungserwartung manifestiert sich in der Forderung nach »Mobilitätsbereitschaft« und »lebenslangem Lernen«, mit dem Ziel, die Berufsbiographien zu flexibilisieren und zugleich ein Höchstmaß an Alterskonsumismus zu ermöglichen – dies ist der Sinn der jüngst auch nach Deutschland übergesprungenen Propaganda für den Methusalem-Kapitalismus kalifornischen Typs. Sosehr also bei dieser ständigen Bewegung die seriösen Werte gefragt scheinen: Die globale Tendenz des Spiels verlangt nach fortschreitender Frivolisierung der Spielerpopulationen. Selbst unter den günstigsten Bedingungen – wenn die sozialstaatliche Befriedung einer Nationalbevölkerung auf breiter Front geglückt ist und die steuerstaatliche Zügelung und Stimulierung der Kapitalwirtschaft in einem Land über längere Zeit in geordneten Bahnen verläuft – ist das System darauf angewiesen, einen steigenden Anteil der Populationen in riskantere Gieraktivitäten und offensivere Leichtsinnspraktiken zu integrieren – ein Sachverhalt,auf den der schale Ausdruck »Konsumgesellschaft« nur von ferne hinweist. Was hier Konsum heißt, bezeichnet die Bereitschaft der Klienten, an kreditbasierten Genußbeschleunigungsspielen teilzunehmen – auf die Gefahr hin, einen großen Teil der Lebenszeit mit Tilgungsgeschäften zuzubringen. Das Geheimnis des lifestyle -Konsumismus verbirgt sich in dem Auftrag, bei seinen Teilnehmern ein neoaristokratisches Gefühl für die völlige Angemessenheit von Luxus und Verschwendung hervorzurufen. Aristokrat im Kapitalismus ist, wer nicht nachdenken muß, um zu wissen, daß ihm oder ihr das Beste zukommt.
Gier bedeutet die affektive Auskleidung der ontologischen Annahme, es sei möglich, eine dauerhafte Asymmetrie zwischen Geben und Nehmen aufrechtzuerhalten. Behält bei einem Spieler das Nehmen längerfristig die Oberhand, spricht man gemeinhin von seinem Erfolg. Im gewöhnlichen Verständnis bezeichnet Erfolg ein Überbelohnungsphänomen – das im übrigen nicht selten mit der Tendenz zur Wiederholung des Unwahrscheinlichen einhergeht. Stabilisierte Überbelohnungen erzeugen bei ihren Empfängern Statusansprüche mit elitärer Tendenz. Chronisch Überbelohnte entwickeln überdurchschnittlich häufig das Talent, ihre Prämien für einen angemessenen Tribut an ihre Leistung zu halten – oder bei fehlender Leistung an ihr bloßes eminentes Sein und, warum auch nicht, ihre physische Erscheinung. Zu voll ausgebauten Giersystemen gehört nämlich typischerweise die Erhebung des guten Aussehens zu einem zureichenden Grund für Überbelohnungserwartungen. Für die entfaltete Gierkultur ist bezeichnend, daß ihre Agenten und Agentinnen davon ausgehen, gerade für das am höchsten belohnt zu werden, wofür sie selbst am wenigsten können. Nicht umsonst ist der lookism , diese Religion der Undankbarkeit, weltweit im Vormarsch. Seine Missionserfolge sind den Massenmedien der Jugendkultur zu verdanken, die seit langem die frohe Botschaft verkünden, zum Erfolg genügees, so auszusehen wie jemand, den man aus den Massenmedien kennt.
Was die kapitalistische Ausprägung der Erotik angeht, so entfaltet sie Zug um Zug das Paradox der »Überbelohnung für alle«. Durch sie wird das Menschenrecht auf Gierverhalten ohne Grenzen proklamiert. Folgerichtig steigt der
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