Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
Max Brandt war nichts mehr zu hören.
Scheiße, ich komme zu spät.
Er hastete vorwärts, seine Schritte klangen wie Glockenschläge auf den eisernen Stufen. Der nächste Absatz, vorsichtig lugte er um die Ecke. Verfluchte seine Angst vor Schusswaffen, jetzt hätte er sich wesentlich besser gefühlt, wenn er die Sig-Sauer dabei gehabt hätte.
Von oben ertönte ein metallischer Schlag, ein erstickter Schrei, dann die Geräusche eines Kampfs. Ein Körper, der mehrfach gegen das Geländer krachte. Stöhnen, unterdrückte Ausrufe. Sehen konnte Zorn nichts, er hatte noch nicht einmal die Hälfte des Turms erreicht.
Die nächsten Stufen nahm er in doppeltem Tempo, versuchte, den Schmerz zu ignorieren, der sich wie eine tollwütige Ratte in seinem Knöchel verbissen hatte.
Vor dem letzten Absatz blieb er stehen. Rechts von ihm ging es zehn, fünfzehn Meter in die Tiefe. Zu seiner Linken die Stahlkonstruktion, senkrechte Pfeiler, die im Abstand von zwei Metern durch horizontale Querstreben miteinander verbunden waren. Ein paar Meter über ihm der hölzerne Boden der Plattform.
Plötzlich ein hohes Sirren, als würde ein Seil gespannt, dann ein Ruck, der Turm erzitterte. Etwas fiel von oben herab.
Zuerst ein Schuh. Er gehörte Max Brandt.
Die nächsten Sekunden sollte Zorn für den Rest seines Lebens nicht vergessen. Denn was nun folgte, war Max Brandt selbst.
Urplötzlich kam er herabgesaust, mit den Füßen voran, so schnell, dass Zorn keine Chance hatte zu reagieren. Das musste er auch nicht, denn im nächsten Augenblick zappelte der Junge direkt neben ihm zwischen den Pfeilern. Zorn verstand nicht, was da geschah, wich vor Schreck zurück, um ein Haar wäre er rückwärts über das Geländer gestürzt, dann sah er den Strick um den Hals des Jungen. Die weit aufgerissenen Augen, in denen das Mondlicht glänzte, die Fäuste, die sich um den Strick ballten und versuchten, die Schlinge zu lockern. Die Füße, die ein paar Zentimeter über einer Querstrebe im Todeskampf zappelten. Max gab keinen Laut von sich, verzweifelt schielte er nach unten, streckte die Zehen in dem vergeblichen Versuch, mit dem Fuß auf der Querstrebe Halt zu finden.
Zorn stieß einen Schrei aus, sein erster Gedanke war, den Jungen zu stützen, er beugte sich nach vorn, sein Fußgelenk protestierte mit einem schrillen Kreischen, er achtete nicht darauf, streckte die Hand aus, doch Max, der wie eine Puppe am Strick baumelte und sich langsam um die eigene Achse drehte, war ein paar Zentimeter zu weit entfernt.
Sinnlos, hier konnte er nichts tun. Sollte er einfach zusehen, wie Max stranguliert wurde? Er musste den Strick lösen, irgendwo musste er befestigt sein. Wahrscheinlich würde der Junge zwischen den Querstreben nach unten fallen und auf den Betonfundamenten landen, doch wenn er ihn hängen ließ, bedeutete das seinen sicheren Tod. Und vielleicht, wenn er Glück hatte, würde sein Sturz von den Streben aufgefangen.
Zorn rannte weiter, bog um den letzten Absatz und hielt abrupt inne. Direkt über ihm stand eine Gestalt. Er erkannte den breiten Rücken sofort, die kräftigen Schultern, die einem Ringer zu gehören schienen. Das dünne, sorgfältig gescheitelte Haar.
Der Strick lief direkt unter der Plattform über eine Querstrebe, von dort wieder hinunter und endete genau da, wo der Mann stand und damit beschäftigt war, den Strick noch fester am Geländer zu verknoten.
Pastor Giese.
Diesmal zögerte Claudius Zorn nicht.
Zwei, drei Stufen, dann war er da. Der Priester wandte ihm noch immer den Rücken zu, Zorn hob ohne Warnung die Faust und rammte sie ihm zwischen die Schulterblätter. Giese schrie auf, doch er ließ den Strick nicht los.
Von unten ertönte ein Poltern. Max, der im Todeskampf mit den Füßen gegen die Pfeiler stieß.
Zorn legte den Arm von hinten um den Hals des Priesters und drückte mit aller Kraft zu, keuchend standen sie auf dem Absatz und rangen miteinander. Die Nackenhaare des Priesters kitzelten in seiner Nase, sein durchdringender Schweißgeruch nahm Zorn den Atem. Giese stieß ein paar gurgelnde Laute aus, versuchte, ihn abzuschütteln, doch Zorn ließ nicht locker, drängte ihn an das Geländer, langte mit der freien Hand nach vorn und versuchte verzweifelt, den Strick zu fassen.
Es gelang ihm nicht. Zwei Meter unter ihm erstickte ein Junge, und er, Zorn, war nicht in der Lage, ihm zu helfen! Es gab nur eine Möglichkeit, er hatte keine Wahl.
Er ließ den Hals seines Gegners los und trat einen Schritt
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