Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
links minus 1,6 und rechts minus 2,75 Dioptrien) sah nichts. Selbst als er sich auf die Zehenspitzen stellte, erkannte er nicht viel mehr als ein paar verschwommene Umrisse, die eventuell entfernt an etwas Ähnliches wie Buchstaben erinnern mochten.
»Fuck!«
Er lehnte sich mit dem Rücken an den Wegweiser, die Beine gaben nach, langsam sackte er in sich zusammen, bis er schließlich mit dem Hosenboden auf dem sandigen Kies landete.
Dort saß er nun neben einer zerbeulten Plastikflasche und hielt sich die stechende Seite.
Nein, aufgeben würde er nicht, nur kurz warten, bis sich sein Puls ein wenig beruhigt hatte. Dann würde er aufstehen und in aller Ruhe eine Runde über die Lichtung laufen, bis er wusste, wo er war. So einfach war das, er war hier nicht im Urwald, sondern in der Stadt, es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht …
Da. Ein Schrei.
Fast klang es wie ein Tier, doch das war es nicht, was da schrie.
Das war ein Mensch.
Max Brandt.
Ja, das war der Junge. Eine Sekunde nur, mit schriller, sich überschlagender Stimme, die in Todesangst um Hilfe rief.
Claudius Zorn sprang auf, die Müdigkeit war mit einem Schlag verflogen. Er schloss die Augen und lauschte angestrengt. Jetzt war es wieder still, bis auf das Rauschen des Blutes in seinem Kopf. Egal, er hatte genug gehört. Er war zwar fast blind, doch sein Gehör funktionierte ausgezeichnet, er wusste, woher der Ruf gekommen war: Direkt hinter ihm, höchstens hundert Meter entfernt.
Er raste los und richtig, nach wenigen Schritten erkannte er den kleinen, verwahrlosten Spielplatz am Fuß des Bergs. Drei, vier Paar unbehauene Stämme, eine schmutzige Sandkiste, zwei im rechten Winkel stehende Bänke. Rechts daneben führte der Weg steil nach oben, das war die Strecke, auf der vor genau einer Woche der unglückselige Björn Grooth ums Leben gekommen war.
Jetzt war Claudius Zorn hellwach. Einen kurzen Moment dachte er an das Einsatzkommando, die Truppe musste längst hier sein. Überlegte, dass er (wie immer) unbewaffnet war, dass er sich in Gefahr begab, wer wusste schon, was da oben zwischen den Bäumen vor sich ging? Dinge, die ihm in Sekundenbruchteilen gleichzeitig durch den Kopf schossen, die er aber genauso schnell beiseite schob. Das alles führte zu nichts.
Wieder rannte er los.
Augenblicklich schrie sein Körper nach Sauerstoff, doch jetzt, kurz vor dem Ziel, achtete er nicht darauf. Es ging steil nach oben, die Turnschuhe rutschten über den sandigen Boden, immer wieder verlor er den Halt, er wandte sich nach rechts, lief jetzt neben dem Weg, dort ging es besser. Kurz darauf passierte er die Stelle, an der das Seil gespannt gewesen war, er bekam es nicht mit. Den Blick stur zu Boden gerichtet, war er ausschließlich damit beschäftigt, den zahlreichen, unter dem Laub verborgenen Wurzeln auszuweichen.
Was ihm leider nicht ganz gelang.
Sein rechter Fuß verfing sich in einer Brombeerranke, er stolperte, versuchte, den Sturz abzufangen, trat mit dem linken Bein auf einen Stein und knickte um. Der kurze Schrei, den er nun ausstieß, war eine Mischung aus Schmerz- und Wutgeheul, augenblicklich biss er die Zähne aufeinander, hockte sich hin und tastete schweigend nach dem linken Sprunggelenk. Der stechende Schmerz war eindeutig: Gebrochen war wohl nichts, aber eine Zerrung war momentan völlig ausreichend und in etwa so nützlich wie ein Kropf.
Zorn sah auf. Die letzten Meter führten fast senkrecht nach oben, zwischen den Baumstämmen erkannte er bereits die stählernen Pfeiler des Turms.
Er stützte sich mit der Hand an den Stamm einer jungen Eiche und richtete sich vorsichtig auf. Als er den Fuß ein wenig belastete, schossen ihm Tränen in die Augen, der Schmerz raste bis zur Hüfte empor.
Das kann doch alles nicht wahr sein, dachte er resigniert. Erst finde ich den Weg nicht, dann fliege ich kurz vor dem Ziel auf die Fresse. Ich sollte den Beruf wechseln und Komiker werden.
Dies alles hatte nur ein paar Sekunden gedauert und als er sich dann auf alle viere niederließ und das letzte Stück nach oben kroch, überlegte Zorn, dass es jetzt eh zu spät war, dass er seinen Beruf schon vor Jahren hätte aufgeben sollen oder, besser noch, gar nicht erst hätte ergreifen dürfen.
Er griff nach einer hervorstehenden Wurzel, zog sich nach oben und erreichte schließlich die Kante des Plateaus.
Dort, verborgen hinter einem Holunderstrauch, stand er nun, schweratmend, auf einem Bein schwankend wie ein angetrunkener Storch.
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