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Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Titel: Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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zurück.
    Giese schnappte nach Luft. Zorn sah über die Schulter des Priesters und erkannte, dass der Strick bisher nur zweimal um das Geländer geschlungen war, zwei, drei Handgriffe, und er war gelöst.
    Vielleicht war Max noch zu retten. Es ging um Sekunden.
    Die dunkle Gestalt des Pastors hob sich deutlich gegen den Nachthimmel ab. Er stand am Geländer, hielt sich den schmerzenden Hals. Zorn sah die schwarzen Baumwipfel unter ihnen aufragen. Wie tief ging es hinunter? Zehn Meter? Fünfzehn? Jetzt war keine Zeit, über die Konsequenzen nachzudenken.
    Zorn nahm Anlauf.
    Warf sich mit aller Gewalt nach vorn.
    Giese schwankte, dann kippte er über das Geländer und fiel in die Tiefe.
    Kein Geräusch. Kein Schrei, kein Aufprall, nichts. Der Priester verschwand in der Nacht wie ein großer schwarzer Vogel.
    Zorn sah ihm nicht nach, sein Kopf war leer, es war egal, was da unten passierte. Aus weiter, unendlicher Entfernung hörte er Schritte auf der Treppe, laute, hektische Rufe, die schnell näherkamen. Das Einsatzkommando.
    Zu spät.
    Der Strick saß fest. Mit fliegenden Fingern zerrte er an der Schlinge, rutschte ab, stieß einen Wutschrei aus, dann war es endlich geschafft. Der Strick schoss nach oben, unter ihm sauste der leblose Körper des Jungen in die Tiefe.
    Zorn sank zusammen. Wie lange er ohnmächtig war, konnte er unmöglich sagen, es konnten nur Sekunden gewesen sein, denn er kam zu sich, als sich schwere Schritte näherten.
    Eine unförmige Gestalt beugte sich über ihn, er erkannte den Helm und die schusssichere Weste. Es roch nach Leder und Gummi, eine Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht. Er legte den Arm über die Augen und wandte sich ab.
    »Wir haben den Jungen.«
    »Sehr gut«, murmelte Zorn. »Jetzt würde ich gern ein bisschen schlafen.«
    Sprach’s und erbrach sich zwischen die angewinkelten Beine.

Teil zwei
    Sechzehn
    Er erwachte vom hartnäckigen Klingeln an der Wohnungstür. Ein ungewohntes Geräusch, er bekam so gut wie nie Besuch. Zorn stöhnte, zog das Kissen über den Kopf und drehte sich auf die andere Seite.
    Scheißegal, wer das war.
    Claudius Zorn wollte niemanden sehen, und er wollte nicht reden. Denken wollte er auch nicht. Schlafen, das war das Einzige, was ihm jetzt helfen konnte. Einfach nur daliegen und nie wieder aufstehen.
    In der Nacht war er immer wieder hochgeschreckt, der verletzte Fuß hatte ihn ständig geweckt. Ganz zu schweigen von den Träumen, in denen der Priester immer und immer wieder über die Brüstung gestürzt war.
    Zorn wusste nicht, wie er selbst vom Turm hinunter und später nach Hause gekommen war, er hatte wohl unter Schock gestanden, jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, irgendeine Frage beantwortet zu haben. Das stand ihm heute bevor, und der Gedanke, sich für den Tod eines Geistlichen rechtfertigen zu müssen, war alles andere als verlockend. Egal ob er richtig gehandelt hatte oder nicht.
    Das Klingeln verstummte.
    Geht doch, dachte Zorn.
    Jetzt klopfte es.
    Verflucht nochmal!
    Er quälte sich aus dem Bett, natürlich mit dem kranken Fuß zuerst, und jaulte auf. So ist es also, wenn man mit dem linken Bein zuerst aufsteht, dachte Zorn und stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus. Das kann ja nur ein toller Tag werden.
    Das Klopfen steigerte sich in einem Crescendo zum wütenden Donnern, es klang, als würde jeden Moment die Türfüllung aus dem Rahmen gesprengt. Er humpelte über den Flur, stieß sich die Hüfte an einer Kommode und verlor endgültig die Nerven.
    »Fick dich!«, brüllte er und riss die Tür auf. »Hast du nicht mehr alle …«
    »Guten Morgen, Chef. Hab ich dich geweckt?«
    Schröder sah lächelnd zu ihm auf.
    »Du?«
    Zorn stand konsterniert in der Tür. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Schröder ihn noch nie besucht.
    »Hast du jemand anderen erwartet, Chef?«
    »Ich wohne hier. Ich erwarte nie jemanden.«
    Noch immer grinste Schröder. Zorn trug ein giftgrünes Poloshirt und geblümte Unterhosen, Sachen, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, die er aber niemals in der Öffentlichkeit tragen würde. In der untersten Schublade seines Kleiderschranks lagerte ein ganzes Arsenal geschmackloser Pullover (pinkfarben, mit aufgestickten Wappen), Strümpfe (weiße Tennissocken, meist im praktischen Zehnerpack), Bettbezüge (mit Drachenmotiven) und Schlüpfer (teilweise mit Wochentagen bedruckt). Doch er brachte es nicht übers Herz, etwas davon wegzuwerfen. Um den Sachen wenigstens den Anschein einer Daseinsberechtigung zu

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