Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
Routiniert wickelte er die Mullbinde um den Fuß. Die eigene verletzte Hand schien ihn dabei nicht zu stören.
»Ich wollte, dass du es von mir erfährst«, sagte er, ohne aufzublicken.
»Was?«
»Der Junge lebt.«
Zorn zuckte die Achseln.
»Das weiß ich. Zumindest habe ich das noch mitbekommen. Wie geht’s ihm?«
»Den Umständen entsprechend. Er wird zwar eine Weile einen steifen Nacken haben, aber das Krankenhaus hat er bereits verlassen. Er hat unglaubliches Glück gehabt.« Schröder sah kurz auf, dann wandte er sich wieder dem Knöchel zu. »Du hast ihm das Leben gerettet.«
Ja, dachte Zorn, das hab ich wohl. Dafür habe ich jetzt jemand anderen auf dem Gewissen. Ich rette einen Teenager und töte dafür einen Priester. Toller Tausch. Ich hätte eine Pistole dabei haben müssen, dann hätte ich zumindest einen Warnschuss abgeben können.
Verdammt.
Er spürte, wie etwas in ihm aufstieg, etwas Dunkles, Trauer vielleicht. Schüttelte widerwillig den Kopf und schob es beiseite. Ihm war klar, dass er sich für den Rest seines Lebens Vorwürfe machen würde. Doch dazu war später genug Zeit.
»Bist du hergekommen, um mir das zu sagen? Dass Max Brandt lebt? Das hättest du mir auch im Präsidium erzählen können.«
»Fertig, Chef.« Schröder gab Zorn einen leichten Klaps auf den Unterschenkel. »Der Verband ist nicht dick, du solltest damit in deine Schuhe passen. Richtig laufen allerdings kannst du frühestens übermorgen wieder. Und du solltest den Fuß kühlen. Hast du Kühlakkus?«
»Ich hab dich was gefragt, Schröder.«
»Du könntest dich wenigstens bedanken.«
»Danke. Also?«
Schröder rutschte im Sessel nach hinten und schlug die Beine übereinander.
»Max Brandt ist nicht der Einzige, der überlebt hat.«
Zorn richtete sich auf.
»Was?«
»Der Priester lebt auch.«
Hätte Zorn gestanden, wäre er wohl buchstäblich aus den Latschen gekippt. Jetzt, da er saß, sackte er nur gegen die Sofakissen und starrte Schröder mit offenem Mund an.
»Nee.«
»Doch, Chef. Ich dachte mir, dass du das gleich wissen solltest, deshalb bin ich sofort zu dir. Mir ist bewusst, dass du nicht gern geweckt wirst, aber ich hoffe, du machst eine Ausnahme und verschonst mich.«
Wieder stieg etwas in Zorn empor, diesmal war es etwas anderes. Erleichterung. Ja, er fühlte sich leicht. So leicht, dass er kurz befürchtete, abzuheben und eine Runde durch sein kleines Wohnzimmer zu schweben. Dieses Gefühl war so stark, dass er kurz zum Fenster sah, um zu überprüfen, ob es auch geschlossen war.
»Danke, Schröder.«
» De nada , Chef. Genau genommen solltest du dich bei niemandem bedanken. Nach allem, was ich weiß, hast du richtig gehandelt. Dir blieb keine Zeit, und du hattest keine Wahl. Wenn jemand sich bedanken sollte, dann der Priester.«
Zorn lachte auf. »Bei mir?«
»Nein, beim lieben Gott.«
»Das wäre naheliegend, aber sinnlos.«
Zorn sah Pastor Giese vor sich. Die kräftige Gestalt, die von einer Sekunde auf die andere lautlos über das Geländer verschwand. Er schüttelte den Kopf.
»Das waren mindestens zehn Meter, er muss doch unten auf dem Betonfundament gelandet sein. Wie konnte er das überleben?«
»Direkt neben dem Turm wächst eine Kiefer. Ihre Äste haben den Sturz abgefangen.«
»Ist er vernehmungsfähig?«
»Nein. Die Ärzte wissen noch nichts Genaues, momentan darf niemand zu ihm.«
Zorn sah Schröder an.
»Ich dachte tatsächlich, ich hätte diesen Pastor eigenhändig getötet.«
»Das hast du nicht, Chef. Und selbst, wenn es so wäre …«
»Ich weiß, ich konnte nicht anders. Aber trotzdem, das ist leichter gesagt als getan.« Zorn schluckte und fügte leise hinzu: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass dieses Arschloch lebt.«
»Doch, das kann ich.« Schröder schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel und stand auf. »Ich fahr zurück ins Präsidium, ich würde vorschlagen, du machst heute frei.«
Zorn hob die Hand. »Das entscheide immer noch ich, mein Lieber. Vor fünf Minuten dachte ich noch, ich hätte einen Menschen getötet. Der Pastor lebt, jetzt wird gefeiert!«
Schröder wich ein wenig zurück.
»Chef, ich habe gestern genug Alkohol getrunken.«
Zorn sah Schröder verwundert an.
»Wer redet von dir? Und von Alkohol? Geh in die Küche und mach mir einen Kaffee!«
»Bitte?«
»Sieh’s mal so«, Zorn klopfte umständlich die Kissen zurecht und legte sich wieder aufs Sofa, »ich hab ein sehr, sehr schlimmes Bein, ich
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