Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
weiß es nicht. Wahrscheinlich.« Schröder schüttelte langsam den Kopf. »Aber ich fürchte, dass wir es mit einem selten widerlichen Zeitgenossen zu tun haben.«
»Du musst sofort ins Krankenhaus und versuchen, ob du zu ihm durchkommst, Schröder.« Zorn wand sich einen Moment und fügte dann leise hinzu: »Bitte.«
»Aber klar, Chef.« Es schien, als zögen sich Schröders Mundwinkel ein wenig nach oben. »Ich kann davon ausgehen, dass wir keine offizielle Erlaubnis haben, oder?«
»Natürlich nicht.«
»Dann«, erwiderte Schröder, und diesmal huschte ein leises Lächeln über sein Gesicht, »werde ich mein Bestes tun.«
Das wusste Zorn, und schlagartig fühlte er sich ein wenig besser.
*
Kurz darauf saß Zorn im Volvo und fuhr zum Fernsehstudio. Das Kopfsteinpflaster der Ausfallstraße in Richtung Autobahn wurde seit Monaten erneuert, der Verkehr quälte sich schwerfällig nach Osten, eine übelriechende Wolke aus Abgasen und Baudreck hing über der zur Hälfte aufgerissenen Fahrbahn.
Er passierte die alte Eisenbahnbrücke am Bahnhof und kam hinter einer Straßenbahn zum Stehen. Vor ihm stauten sich die Autos, links erkannte er an einer Hauswand das riesige, ungelenke Graffiti einer großbusigen Frau, darunter eine Telefonnummer und einen Werbespruch für ein Eros-Center am Stadtrand.
Sie werden uns entspannt und mit neuer Energie wieder verlassen!
Zorn lachte gequält auf. Die Digitaluhr neben dem Tachometer zeigte acht Minuten vor vier, er würde zu spät kommen. Etwas anderes, überlegte er und seufzte leise, wäre auch sehr verwunderlich, schließlich war heute so ziemlich alles schiefgegangen. Warum sollte es jetzt besser werden? Es war einfach nicht sein Tag, er musste sich wohl damit abfinden.
Obwohl heute Montag war, ein Mittwoch hätte wesentlich besser gepasst.
In seiner Kindheit hatte er den Mittwoch gehasst, ja gefürchtet. Das war der Tag gewesen, an dem er kaum zu Atem kam, nach der Schule hatte er gerade einmal Zeit gefunden, die Tasche zu Hause in die Ecke zu werfen, um dann mit der Querflöte loszuhasten und einen peinigenden Nachmittag am Konservatorium zu verbringen.
Es begann mit dem Einzelunterricht. Sein Lehrer, ein siebzigjähriger ehemaliger Orchestermusiker, bescheinigte ihm jedes Mal, dass er zwar talentiert (was wohl stimmte), aber viel zu faul sei, um jemals Karriere zu machen (was ebenfalls absolut zutreffend war). Und während sich der kleine Claudius durch endlose Tonleitern quälte – »Cis!«, pflegte der alte Lehrer zu rufen, »das ist kein Cis, sondern eine Beleidigung, Claudius!« –, lauerte bereits das nächste Martyrium, der Theorieunterricht bei der schwerhörigen Frau Hudy, einer kettenrauchenden, gelbhäutigen Furie, für die es nichts Wichtigeres auf der Welt gab als mixolydische Akkordschemen, diatonische Intervalle und filterlose Zigaretten.
Den Abschluss dieses demütigenden Nachmittages bildete die zweistündige Probe des Jugendorchesters. Die war zwar nicht minder anstrengend, hatte aber einen Vorteil: Hier konnte er sich hinter den anderen verstecken, niemandem fiel auf, wie er gelangweilt hinter seinem Notenpult hockte, lustlos Vivaldi vor sich hin dudelte und auf das Ende dieser trostlosen Veranstaltung wartete.
Abends lag er erschöpft im Bett, erleichtert, diesen Tag hinter sich gebracht zu haben, und gleichzeitig bedrückt von dem Wissen, dass der nächste Mittwoch nur sieben Tage entfernt war und in der folgenden Woche auf ihn lauerte wie ein Taschendieb hinter der nächsten Straßenecke. Ein Gefühl, das ihn bis heute, dreißig Jahre später, nicht verlassen hatte.
Das Kreischen einer Betonfräse riss ihn aus seinen Gedanken, direkt neben ihm begann ein Arbeiter mit Ohrenschützern und orangefarbener Weste, die Straße aufzureißen. Zorn sah erschrocken auf, eine Staubwolke nahm ihm die Sicht, undeutlich erkannte er, dass die Straßenbahn sich vor ihm in Bewegung setzte. Hinter ihm hupte es, er knurrte eine Verwünschung, gab Gas und startete die Scheibenwischer. Das Wasser war alle, die Wischer schabten mit einem hässlichen Quietschen über die schmutzige Frontscheibe und verschmierten den Dreck in alle Richtungen.
»Schweinemistscheiße!«
Ein paar Zentimeter vor ihm leuchteten die Bremslichter der Straßenbahn auf. Er trat auf die Bremse, kurbelte das Fenster hinunter, beugte sich hinaus und versuchte, die Frontscheibe mit der Hand abzuwischen. Es war sinnlos, der Schmutz lag in dicken Schlieren über dem Glas. Die Hitze schlug
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