Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
dann ging er zum Fenster und riss es weit auf.
Ein angenehmer, kühler Wind schlug ihm entgegen, es roch nach Regen. Unten glänzten die Dächer der Stadt im Mondlicht. Er atmete tief durch. Sein linkes Bein kribbelte, es war eingeschlafen. Langsam, ganz langsam kam die Erinnerung zurück, bruchstückhaft tauchten die Einzelheiten auf wie ein Schiff aus dem Nebel.
Er wusste noch, dass ihm schwarz vor Augen geworden war, dann musste er weggetreten sein. Irgendwann hatte sich eine Gestalt über ihn gebeugt, er erinnerte sich an die orangefarbene Weste, das war der Notarzt gewesen. Zorn hatte aufstehen wollen, doch man hatte ihn zurückgehalten. Dann das Heulen der Sirene, im Krankenwagen war er wieder aufgewacht, er hatte sich schwach gefühlt, aber nicht krank, ein wenig benommen vielleicht, mehr nicht. Dem Arzt hatte er erklärt, dass er den ganzen Tag nichts gegessen und außer ein paar Tassen Kaffee so gut wie nichts getrunken habe. Ja, hatte der Notarzt genickt, das sei natürlich eine Erklärung, wahrscheinlich handele es sich um einen Kreislaufkollaps, was angesichts der Hitze nicht verwunderlich sei. Trotzdem müsse er ein paar Untersuchungen anstellen, es könne ebenso gut ein Schlaganfall gewesen sein, schließlich sei Zorn nicht mehr der Jüngste, worauf dieser lautstark protestiert und nach einer Zigarette verlangt hatte. Sie hatten ihm eine Spritze gegeben, später dann, im Krankenhaus, hatte er so lange genörgelt, bis ihn ein sichtlich genervter Arzt auf eigene Verantwortung entlassen hatte (nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er seinen Lebenswandel überdenken und sich in der nächsten Zeit gründlich untersuchen lassen müsse).
Zorn war mit dem Taxi nach Hause gefahren, er erinnerte sich noch, dass er Schwierigkeiten gehabt hatte, die Wohnungstür aufzuschließen, dann war er zum Sofa gewankt, hatte eine halbe Zigarette geraucht und war kurz darauf eingeschlafen.
Er ging ins Bad, füllte ein Glas mit Wasser und trank es in einem Zug leer. Jetzt fühlte er sich besser, ein wenig benommen zwar, als habe er einen Kater, ansonsten ging es ihm gut. Im rechten Ohr war ein hohes Pfeifen zu hören, aber auch das würde vergehen, da war er sicher. Sein Herz schlug gleichmäßig, er hob die Hand und die Finger vors Gesicht. Da war kein Zittern, nichts.
Zorn strich das Haar aus der Stirn und betrachtete prüfend sein Spiegelbild. Keine Geheimratsecken, etwas grau an den Schläfen, die Falten um die Augen wurden tiefer, ja, da waren auch ein paar winzige geplatzte Äderchen um die Nase, na und? Das war normal, schließlich war er über vierzig, trotzdem: Er sah noch gut aus, das wusste er. Und es würde noch ein paar Jahre so bleiben, wenn er aufpasste. Er war fit, das, was passiert war, musste ihn nicht beunruhigen.
Ein harmloser Schwächeanfall, mehr nicht.
Vorsichtig begann er, einen kleinen Pickel auf der Stirn auszudrücken, als es an der Tür klingelte. Überrascht fuhr er zusammen, überlegte kurz und entschied, dass es niemand anders als Schröder sein konnte, wahrscheinlich hatte er im Fernsehen alles mit angesehen und machte sich Sorgen, weil er Zorn nicht erreichen konnte. Wer sonst sollte um diese Zeit schon bei ihm klingeln?
Er schlurfte zum Flur, unterwegs steckte er das zerknitterte Hemd in die Jeans. Als er die Tür öffnete, schloss er einen Moment die Augen, das helle Neonlicht im Hausflur blendete ihn.
»Sie müssen mir helfen, Herr Kommissar. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.«
Nein, Schröder war das nicht. Das war die Stimme eines verängstigten Mädchens.
Zorn sah entgeistert auf.
Vor ihm stand Martha Haubold.
*
ich habe das nicht freiwillig getan, es gibt gründe
vielleicht ist es liebe
oder hass
ich weiß es nicht
*
»Das ist jetzt ein Witz, oder?«
Martha stand schweigend vor Zorn, ihre Schultern bebten, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Sie war blass unter der sonnengebräunten Haut, das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, sie schob es mit einer hastigen Bewegung hinter die Ohren.
»Hast du eine Ahnung wie spät es ist?«, fragte Zorn, als sie noch immer nichts sagte.
»Bitte, Herr Kommissar.« Sie sah gehetzt über die Schulter. »Ich weiß einfach nicht mehr weiter.«
Zorn folgte ihrem Blick. Der Hausflur lag kühl und einsam vor ihm, die Wände mussten dringend gestrichen werden, es war schmutzig wie immer. Weiter hinten flackerte eine Neonröhre.
»Wirst du verfolgt?«
»Ich weiß nicht.«
»Was willst du, verdammt?«
»Kann ich heute Nacht bei
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