Zorn - Wo kein Licht
sagte Schröder am anderen Ende.
*
»Sind Sie wach?«
Eine Hand fuhr über de Koops Gesicht. Knochige Finger tasteten über seine Wangen, das Kinn, den Hals. Er würgte, der Gestank nahm ihm den Atem. Schimmel, Verwesung, Fäulnis. Ausdünstungen des Todes.
»Hören Sie mich?«
Die Stimme. Brüchig, wie das Quietschen einer rostigen Tür.
De Koop öffnete die Augen. Die Taschenlampe tauchte die Zelle in ein flimmerndes, unwirkliches Licht. Er sah die rissige Decke, die alten Rohrleitungen, die abgeplatzte Farbe an den Wänden. Und er sah das Gespenst, das vor ihm kniete. Große, fiebrig leuchtende Augen, eiternde Geschwüre auf der Stirn, blutig aufgerissene Lippen, teigige, bläulich schimmernde Haut.
»Ich habe Sie gleich erkannt«, sagte das Gespenst.
De Koop lag auf dem Rücken, eine Decke war über seinen Körper gebreitet. Er richtete sich auf, ächzte, griff nach der verletzten Schulter.
»Haben Sie Schmerzen?«
»Es geht.«
De Koop sank zurück.
Das Gespenst strich die Decke glatt, zog sie bis unter de Koops Kinn.
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Natürlich, Herr Richter.« De Koop klang verächtlich. »Wie lange sind Sie schon hier?«
»Ich weiß es nicht, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Ich weiß auch nicht, wo wir hier sind.« Die Worte sprudelten hervor. »Ich bin so froh, dass ich nicht mehr allein bin, diese Ungewissheit ist das Schlimmste, man könnte verrückt werden in diesem Loch. Die haben nicht mit mir geredet, kein Wort, nur diese Zettel an der Wand, jedes Mal ein neuer, wenn ich aufgewacht bin. Haben Sie eine Ahnung, wer diese Leute sind?«
»Es ist nur einer.«
Die Augen des Richters weiteten sich.
»Was sollen wir tun?«
»Warten.«
Der Strahl der Taschenlampe richtete sich auf die Wand.
»Es wird nicht lange dauern«, flüsterte der Richter.
Neben dem Waschbecken hing ein neuer Zettel:
BALD.
*
»Wie geht es ihr?«, fragte Schröder am Telefon.
Frieda Borck hockte in ihrem Sessel und starrte an die Wand. Ihr Kopf war auf die Schulter gesunken, die Nase war gerötet, die Augen geschwollen. Sie sah matt aus, kraftlos, das sprichwörtliche Häufchen Elend, Lichtjahre entfernt von der hübschen, schlagfertigen Staatsanwältin, die Zorn so oft das Leben zur Hölle gemacht hatte.
Angesichts der Tatsache, dass der Mann, den sie liebte, polizeilich gesucht wurde, hielt sie sich trotzdem ganz ordentlich, fand Zorn.
»Ich habe sie nicht gefragt, aber sie sieht beschissen aus«, sagte er. »Und sie raucht.«
Frieda Borck gab ein resigniertes Husten von sich.
»Grüß sie von mir«, sagte Schröder. »Sie soll die Finger von deinen Zigaretten lassen.«
»Ich werd’s ihr ausrichten. Und jetzt erzähl, was los ist.«
»Wir haben eine erste Analyse von Czernyks Kaffeebecher.«
»Jetzt schon?«
»Das Labor war schnell.«
»Offensichtlich.«
»Sie haben Lehmspuren gefunden, wahrscheinlich Bauschutt. Nicht nur auf dem Becher, sondern auch auf dem Stuhl, auf dem er gesessen hat. Und noch etwas anderes.«
»Ja?«
»Salz.«
»Salz? Hat er im Supermarkt ein Regal umgeschubst?«
»Kein Kochsalz, sondern Steinsalz. Der Rohstoff sozusagen. Czernyk könnte sich in der Nähe einer Lagerstätte verstecken.«
»Die ganze Stadt steht buchstäblich auf diesem Zeugs, Schröder.«
»Es könnte sich um eine Solquelle handeln. Und in Verbindung mit dem Bauschutt grenzt das die Suche ein. Dazu kommt, dass sich an anderer Stelle identische Spuren finden.«
»Wo?«
»An der Leiche des toten Anwalts.«
»Ach!«
Zorn war aufgesprungen, die Staatsanwältin sah erstaunt auf.
»Wo bist du?«
»In der Villa. Hier ist alles unverändert. Wie machen wir weiter?«
»Ich muss nachdenken«, sagte Zorn und legte auf.
*
»Geben Sie mir mal die Lampe.«
De Koop kniete vor der Tür. Sorgfältig untersuchte er die Scharniere, der Putz war abgebröckelt, doch sie saßen fest in der Wand. Seine Finger fuhren über den zerkratzten Stahl. Das Türblatt war verbeult, rostig, mit Schmierereien übersät, von der ursprünglichen Farbe war nichts mehr zu erkennen. Neben der Klinke war etwas in das Metall geritzt:
ich blas dir die sorgen weg
Darunter eine unleserliche Telefonnummer.
»Hier kommen wir nicht raus.«
De Koop richtete sich auf, die Knie seiner Laufhose waren grau vom Dreck.
»Ich weiß.« Der Richter stand gebeugt vor der Badewanne, die Decke fest um die Schultern geschlungen. »Einmal hat er gegen die Tür geschlagen, es war fürchterlich laut. Ich dachte, dass er mich holen
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