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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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keine Brecher, gleichmäßig, fast einschläfernd werden sie von den Wellen auf und ab gewiegt.
    »Ich habe solchen Durst, Rüdiger.«
    Es ist verrückt, sie sind umgeben von Milliarden Litern Wasser, es ist klar, sauber, doch sie dürfen es nicht trinken, es würde sie noch mehr austrocknen. Das Salz entzieht ihren Körpern die Feuchtigkeit.
    »Und ich bin müde.«
    Der rote Haarschopf verschwindet unter der Wasseroberfläche, Luftblasen steigen auf. Rüdiger greift nach unten, zieht seinen Bruder zurück an die Oberfläche. Schlägt ihm ins Gesicht.
    »Bleib wach!«
    Er ist wütend. Eigentlich sieht es immer so aus, als habe er schlechte Laune, aber das kommt von den buschigen Augenbrauen, sie lassen ihn mürrisch und verschlossen wirken. Die Leute machen Witze, weil sie sich so gar nicht ähnlich sehen. Rüdiger ist groß, mindestens einen Kopf größer als sein jüngerer Bruder, der jetzt wieder das Bewusstsein verliert. Er hat aufgehört, die Arme zu bewegen, seine Augen drehen sich nach innen, nur noch das Weiß ist zu sehen. Wieder gerät sein Kopf unter Wasser.
    Rüdiger zerrt ihn nach oben. Er nimmt das Paddel, schiebt es ihm unter die Achseln, so, dass es quer vor der Brust schwimmt, ein Stück unterhalb des Kinns. Dann löst er seinen Gürtel, legt ihn über das Holz und schnallt ihn auf dem Rücken seines Bruders zusammen. Es dauert eine Weile, seine Finger sind aufgeweicht, steif vor Kälte.
    »Rüdiger? Was machst du?«
    »Ich rette dich vor dem Ersaufen, Kumpel.«
    Rüdiger zerrt prüfend an dem Riemen, das Paddel sitzt fest.
    »Dreh dich auf den Rücken«, befielt er.
    Das tut sein Bruder. Er hat immer getan, was Rüdiger sagt. Das Paddel liegt vor seiner Brust, die Arme hängen darüber. Das Holz verhindert, dass er untergeht, der Kopf bleibt über Wasser, auch wenn er sich nicht bewegt. Selbst wenn er wollte, er könnte sich nicht befreien, er kann die Gürtelschnalle auf dem Rücken nicht erreichen.
    Rüdiger nickt zufrieden. Er wird emporgehoben, eine Welle erfasst ihn, sofort ist er drei, vier Meter entfernt. Er rudert mit den Beinen, kämpft sich wieder heran.
    »Atme langsam und gleichmäßig«, sagt er keuchend.
    »Was soll das?«
    »Du bist leichter als ich.« Rüdiger grinst schief. »Noch. Du weißt doch, was ich gesagt habe.«
    Das war zu Beginn ihres Urlaubs gewesen. Sie hatten das Boot gerade zu Wasser gelassen, es war ihre erste Nacht auf dem Schiff. Die Sterne waren überwältigend, sie saßen im Heck, tranken Rotwein aus einem Pappkarton.
    »Du musst aufpassen, dass du nicht dick wirst«, hatte Rüdiger gesagt. Er hielt das Steuer in der einen Hand, mit der anderen fuhr er seinem Bruder über den Kopf. »Irgendwann fallen dir die Haare aus, und du endest als kleiner, kahlköpfiger Gartenzwerg, den niemand ernst nimmt.«
    Sie hatten beide gelacht.
    Das ist lange her. Die Welt hat sich gedreht.
    Rüdiger legt den Kopf in den Nacken, sinkt bis zur Nase unter Wasser, kommt wieder hoch. Er verschluckt sich, hustet, ringt nach Luft.
    »Wir werden das schaffen«, keucht er.
    Das ist eine Lüge. Das Paddel ist dünn, es bietet nur Auftrieb für einen. Das weiß Rüdiger, aber er sagt es nicht. Das Sprechen bereitet ihm Mühe, sein Haar hängt ihm wie ein dunkler Vorhang bis über das Kinn. Er schiebt es nicht aus dem Gesicht.
    Menschen, die kurz vor dem Ertrinken sind, tun so etwas nicht.
    Sein Bruder treibt halb ohnmächtig auf dem Wasser, er bemerkt nicht, dass Rüdiger von einer Welle emporgehoben wird, die Strömung erfasst ihn, er entfernt sich wieder, drei Meter, fünf Meter, dann zehn. Rüdiger hustet, strampelt, kommt wieder ein Stück näher. Seine Arme sind schwer, so schwer.
    Eine neue, größere Welle.
    Zwanzig Meter.
    Früher oder später kommt der Zeitpunkt, an dem ein Ertrinkender in Panik gerät. Er verliert die Kontrolle, schlägt um sich, hält sich an allem fest, was er erreichen kann und zieht es in die Tiefe.
    Auch das weiß Rüdiger.
    »Mach’s gut, kleiner Bruder.«
    Er schließt die Augen.
    Dann ist er verschwunden.
    Zwei Tage später wird in den Zeitungen stehen, dass vierzig Kilometer südwestlich von El Hierro ein portugiesischer Tanker einen halbtoten Deutschen aus dem Atlantik gefischt hat.
    Der andere wird nie gefunden.

Neunundzwanzig
    »Ich könnte kotzen!«
    Zorns Handy landete auf dem Schreibtisch, ein Plastikbecher mit Büroklammern kippte um. Fünfmal hatte er versucht, Malina zu erreichen. Ihr Telefon war ausgeschaltet, die Mailbox sprang sofort

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