Zorn - Wo kein Licht
spürte, dass der Lampenmann nicht wegen ihm hier war, nein, es gab einen anderen Grund, er, Zorn, hatte sich die ganze Zeit geirrt, dies alles war kein Zufall, die Lösung lag woanders, sie war da, zum Greifen nah, ein geradezu körperlich spürbares Jucken machte sich unter seiner Kopfhaut breit, etwas hatte der Lampenmann gesagt, es war bei ihrem ersten Treffen gewesen, vielleicht auch beim zweiten, und jetzt, da Zorn glaubte, die Antwort zu kennen, hob Elias de Koop die Hand.
»Nun«, sagte er, »spielen wir nach meinen Regeln.«
Glas blitzte auf.
Aus dem Augenwinkel sah Zorn den glänzenden Flaschenhals, er schwebte einen Moment in der Luft, dann fuhr er senkrecht nach unten.
Der Richter brüllte auf.
Das Glas bohrte sich in seinen rechten Oberschenkel.
*
Schröders Vater durchwühlte den Küchenschrank, er zog die Schubladen auf, eine nach der anderen. Was genau er suchte, wusste er nicht, es würde sich zeigen, wenn er das Richtige in der Hand hielt. Im Besteckfach fand er einen Korkenzieher, sah ihn kurz an, warf ihn achtlos zu Boden.
Er brauchte etwas anderes. Etwas Spitzes. Mit zitternden Fingern wühlte er weiter, förderte zwischen Löffeln, Flaschenöffnern und Käsereiben eine Salatgabel zu Tage, nein, das war alles nichts, er brummte missmutig, zog an der Schublade, krachend landete der Inhalt auf dem Linoleum.
Verwirrt zuckte er zusammen und sah sich um. Ein großes Fragezeichen bildete sich in seinem Kopf, es war, als wäre er von einem dunklen Raum in den nächsten gestolpert.
Dann fiel sein Blick auf das Bild seines toten Sohnes. Es lag zwischen dem Besteck auf dem Boden, direkt neben dem Obstmesser. Das Messer interessierte Schröders Vater nicht mehr, er hob das Foto auf, der Rahmen war an einer Ecke gebrochen, das Glas gesplittert, doch das Gesicht dahinter war deutlich zu erkennen.
Der Verstand des alten Mannes bäumte sich ein letztes Mal auf, wie ein Ertrinkender, der einen kurzen, tiefen Atemzug nimmt, bevor er endgültig unter der Oberfläche versinkt.
»Rüdiger«, murmelte Schröders Vater und begann zu weinen.
Zwei Sekunden später wusste er nicht mehr, warum.
*
Während der nächsten Sekunden geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, trotzdem würde sich Zorn später an jede Einzelheit erinnern. De Koop war aufgesprungen, der Richter hing an seinem Handgelenk wie eine Marionette, er schrie, halb ragte der Flaschenhals aus seinem Oberschenkel, Blut schoss hervor wie aus einem geöffneten Wasserhahn. Czernyk machte einen Sprung auf den Richter zu, blieb stehen, richtete die Waffe auf de Koop, dann auf Zorn, schließlich auf den Lampenmann, dieser stand neben dem Brunnen, blickte jetzt zu de Koop wie ein Hund, der auf das nächste Kommando seines Herrn wartet.
»Was, verdammt nochmal, geht hier vor?«, schrie Czernyk.
»Hol ihn dir!« De Koop hob den verkrüppelten Arm. »Aber jetzt noch nicht!«
Plötzlich verstand Zorn. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Tritt in den Unterleib.
Es war bei ihrer zweiten Begegnung gewesen, auf dem Parkplatz des Autohauses.
Gott hat nur einen Arm, hatte der Lampenmann gesagt.
Natürlich, Zorn hatte nicht weiter darauf geachtet, auch nicht auf das, was der Lampenmann später hinzugefügt hatte.
Er fährt in einem goldenen Auto.
Jetzt erinnerte sich Zorn an den goldgelben Geländewagen in de Koops Einfahrt.
Der Lampenmann hatte von de Koop gesprochen. Dem einarmigen Gott mit dem goldenen Auto. Die beiden kannten sich. Wahrscheinlich schon sehr lange.
Seit de Koops Angriff auf den Richter waren kaum ein paar Augenblicke vergangen, eine Sekunde lang schien Czernyk unschlüssig, was er tun sollte.
Das reichte aus.
»Jetzt«, sagte de Koop.
Der Lampenmann schoss nach vorn.
*
Der alte Mann hockte im Schneidersitz auf dem Küchenboden, auf dem Schoß lag das gerahmte Bild seines toten Sohnes. Behutsam strich er mit den Fingern über das gesprungene Glas, betrachtete die Augen dieses wildfremden, jungen Mannes. Leise, mit zitternder Greisenstimme, sang er vor sich hin.
Trink, trink, Brüderlein, trink! Lass doch die Sorgen zu Haus!
Ein letzter, zerstreuter Blick auf das Bild.
Meide den Kummer und meide den Schmerz!
Vorsichtig legte er das Foto zur Seite.
Dann ist das Leben ein Scherz!
Ächzend richtete er sich auf, sein Rücken knackte, er stützte sich am Herd ab, kniff die Augen zusammen, überlegte. Etwas hatte er vorgehabt, nur was?
Trink, trink, Brüderlein, trink!
Er räusperte sich, seine Kehle war trocken.
Genau, er hatte
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