Zorn
männliche Lehrer unter ungeklärten Umständen entlassen worden, was nach Ansicht der Verwaltungsangestellten auf sexuelle Übergriffe hindeuten konnte. »Über so etwas wird nicht geredet, und es taucht auch nicht in den Akten auf, weil die Gefahr besteht, dass es irgendwann vor Gericht landet.«
Die anderen neun waren aus unterschiedlichen Gründen, die meisten wegen Trunkenheit oder Drogenmissbrauch, entlassen worden.
Am Ende des Tages rief Lucas Marcy Sherrill in Minneapolis an.
»Hast du etwas über die Jones-Mädchen rausgefunden?«
»Wir sind dran – im Moment ist es bei uns ziemlich ruhig, also konnte ich ein paar Leute darauf ansetzen«, antwortete sie.
»Und die Medien?«
»Nicht so schlimm wie erwartet. Die Morde haben sich vor der Geburt der Reporterin von Channel Three abgespielt und sind ihr deshalb nicht so wichtig … Ja, wir erhalten Anrufe, aber das Interesse hält sich in Grenzen.«
»Was heißt, dass du die Medien unter Kontrolle und im Fall Jones nichts in der Hand hast«, sagte Lucas.
»So würde ich das nicht ausdrücken. Die Gerichtsmedizin meint, es besteht Aussicht auf DNS-Proben von den Mädchen.«
»Verlassen würde ich mich darauf nicht«, sagte Lucas.
»Wenn’s mit der DNS klappt, sind wir dem Kerl innerhalb weniger Tage auf der Spur. Jede fremde DNS, die wir an den Mädchen finden, muss praktisch von ihm sein. Sie waren zwei Tage verschwunden, wurden wahrscheinlich mehrfach vergewaltigt … es muss DNS-Spuren geben.«
»Viel Glück. Haben die Befragungen in der Nachbarschaft Namen ergeben?«
»Ein paar. Natürlich sehen wir uns die Rechnungen für Strom, Gas und Wasser genauer an, aber die scheinen alle von Mark Towne von Towne House bezahlt worden zu sein. Offenbar waren das Pauschalmieten … nur das Telefon ging extra. Wir haben allerdings für den damaligen Zeitpunkt keine Telefonnummer für die Adresse. Also versuchen wir, frühere Nachbarn aufzutreiben.«
»Gut. Halt mich auf dem Laufenden.«
»Versuch nicht, mich auszutricksen, Lucas«, warnte ihn Marcy. »Ich weiß genau, dass du an was dran bist. An was?«
»Ich habe eine Rechercheurin beauftragt zu überprüfen, welche Fälle mit entführten Kindern, die den Jones-Mädchen ähnlich sahen, es im fraglichen Zeitraum gab. Zuerst im Stadtgebiet, dann in unserem Bundesstaat und schließlich in den angrenzenden. Keine Ahnung, ob das irgendwas bringt.«
»Okay«, sagte Marcy. »Für solche Unterstützung bin ich dankbar. Lass es mich wissen, wenn sie was rausfinden sollte.«
»Sie hat schon ungefähr zwanzig mögliche Treffer. Wenn sie fertig ist, sind’s wahrscheinlich fünfzig. Das Problem besteht darin rauszukriegen, wer ausgerissen oder zum anderen Elternteil gewechselt ist und wer ermordet wurde. Wir fischen im Trüben.«
»Viel Glück«, sagte sie.
Als Lucas auflegte, dachte er: Wenn sie’s merkt, wird sie richtig sauer sein.
Egal, wie schlimm der Mord gewesen sein mochte: Dem Fall fehlte die Dringlichkeit eines aktuellen Verbrechens. Er erinnerte eher an eine archäologische Ausgrabung. Eine Lösung würde Marcy Pluspunkte bringen, doch sie war nicht mit dem Elan bei der Sache wie bei einem Täter, der jetzt eine Gefahr darstellte.
Bei Lucas, der damals dabei gewesen war, gestaltete sich das ein wenig anders. Nach dem Gespräch mit Marcy lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und versuchte, sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen. Wo war die Zeit nur geblieben?
Er erinnerte sich, dass er in jenem Sommer, als die Jones-Mädchen verschwunden waren, eine kurze, ausgesprochen befriedigende Affäre mit einer Scheidungsanwältin Ende dreißig gehabt hatte, die sich erst vor Kurzem aus dem Berufsleben zurückgezogen hatte und nach Florida gegangen war.
Aus dem Berufsleben zurückgezogen …
Sandy streckte den Kopf herein. »Haben Sie eine Minute Zeit?«
»Klar.« Er deutete auf den Besucherstuhl.
»Ich hätte da was Interessantes«, teilte sie ihm mit. Sandy hatte sandfarbenes Haar, das weder richtig blond noch richtig brünett war, weswegen der Name genau passte. Sie bezeichnete sich selbst als Hippie und trug Sandalen und formlose, knöchellange Paisley-Kleider, unter denen Lucas interessante Formen vermutete. Sandy war auf unauffällige Weise hübsch, trug eine altmodische runde Hippiebrille und hatte braune Augen mit kleinen bernsteinfarbenen Sprenkeln. Dahinter verbarg sich messerscharfe Intelligenz.
Lucas’ Agent Virgil Flowers hatte ihr einmal den Hof gemacht,
Weitere Kostenlose Bücher