Zornesblind
Umschlag, nahm die Unterlagen heraus und vertiefte sich darin. Das Warten machte Striker nervös. Er stieg aus und nutzte die Gelegenheit, um zu Hause anzurufen.
Courtney nahm gleich beim ersten Klingeln ab.
»Hey, Mäuschen.«
»Hast du dich etwa durch mein MyShrine-Profil geklickt?« Sie klang mächtig sauer.
Striker zog die Stirn in Falten. So was in der Art hatte er befürchtet. »Ja … ähm, nein, ich war das nicht. Mein Kollege Ich war an meinem Computer.«
»Oh mein GOTT , Dad, ein Kollege von dir! Da steht jede Menge persönliches Zeug von mir drin! Ich fass es nicht! Das ist total privat.«
»Sorry, aber es ging nicht anders.« Er erklärte ihr, wie er die Mitteilung bekommen hatte, und sie schien ein bisschen besänftigt. »Kennst du zufällig diesen ›Natter‹? Er bezeichnet sich wohl auch als die Schlange . Sagt dir das was?«
»Nein, nie von dem Typen gehört.«
»Also mir gefällt das gar nicht.«
»Ach was, Dad, das ist völlig undramatisch. Man kriegt doch dauernd Messages von irgendwelchen Leuten, die gern mit einem befreundet sein wollen. Ich füg bloß Leute hinzu, die ich kenne.«
Striker gab sich damit nicht zufrieden. »Du hattest deine Sicherheitseinstellungen auf ein Minimum runtergefahren – jeder kann deine Bilder sehen.«
»Na und?«
»Ich bin auf einigen mit drauf. Jeder, der sich diese Fotos anschaut, kann eine Verbindung zwischen uns herstellen. Ich will das nicht, klar?«
Sie lachte leise. »Nach der Geschichte im vorigen Jahr weiß sowieso jeder, dass du mein Dad bist.«
Striker nickte widerwillig. Bei dem Fall im letzten Jahr waren ihre Fotos überall im Internet gewesen, im Fernsehen und in den Zeitungen. Es war ein totaler Medienalbtraum, etwas, was die Bewohner von Vancouver so schnell nicht vergessen würden.
»Mag sein«, räumte er schließlich ein. »Trotzdem muss man es den Leuten nicht noch einfacher machen, an einen ranzukommen. Ich möchte, dass du meine Fotos von deiner Seite löschst und maximale Sicherheitsstandards einstellst, okay?«
»Dad …«
»Tu, was ich dir sage.«
»Okay, okay. Aber du bist echt paranoid.«
»Du bist sechzehn Jahre alt, und ich bin immer noch dein Vater – es ist mein Job, paranoid zu sein. Wärst du im Übrigen auch, wenn du wüsstest, wie viele Irre da draußen frei rumlaufen.«
»Du hast Wahnvorstellungen, Dad.«
»Wie spät ist es überhaupt? Müsstest du nicht allmählich mal in die Schule?«
»Heute ist sozialer Tag.«
»Ah, wie vorige Woche auch?«
Als sie nicht antwortete, lachte er nervös und etwas schuldbewusst auf. Er ermahnte Courtney, die Finger vom Computer zu lassen, ihren Allerwertesten in Richtung Schule zu bewegen und ihren Therapietermin einzuhalten. »Bye, Mäuschen«, schob er nach und schaltete ab. Bei seiner Rückkehr zum Wagen hatte Felicia den Bericht durchgelesen.
»Und?«, fragte er ungeduldig. Warten war nicht seine Stärke.
Sie schob sich eine lange dunkle Strähne aus der Schläfe und seufzte. »Hier steht alles schwarz auf weiß, Jacob. Larisa hatte den totalen Zusammenbruch.«
»Wie? Warum?«
»Hier steht was von einem Autounfall«, begann Felicia. »Ihre Eltern und ihre Schwestern kamen dabei ums Leben – ihr Wagen rutschte von der eisglatten Straße und fuhr ungebremst in einen Acker. Es passierte zwei Tage vor Weihnachten.«
»Die Ärmste«, sagte er.
Felicia fing seinen Blick auf. »Es kommt noch schlimmer. Ihre jüngere Schwester erlitt schwerste Verbrennungen und erlag drei Wochen später ihren Verletzungen. Verbrennungen dritten Grades auf achtzig Prozent ihres Körpers.«
Striker fühlte mit der jungen Frau. »Kein Wunder, dass sie zusammengebrochen ist. Die Trauer um ihre engsten Angehörigen hat ihr das Herz gebrochen.«
»Nicht bloß Trauer. Schuldgefühle.«
»Schuldgefühle?«
»Larisa fuhr den Wagen. Und sie hat nicht mal eine kleine Schramme abbekommen. Die ermittelnden Beamten von der CIU , also unsere Kollegen von der Verkehrspolizei, sprachen von einem Wunder, dass sie überlebt hat, noch dazu unverletzt.«
Striker musste das eben Gehörte erst einmal verdauen. Ihm drehte sich buchstäblich der Magen um. Dahinter verbarg sich so viel persönliche Tragik. Er blickte zu Felicia. »Bitte sag jetzt nicht, dass sie betrunken Auto gefahren ist.«
»Keinen Tropfen. Sie war stocknüchtern.«
»Gott sei Dank.«
»In dem Bericht steht allerdings, dass überhöhte Geschwindigkeit mit im Spiel war. Larisa fuhr für die Witterungsverhältnisse viel zu schnell. Es
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