Zu cool für dich
konnte. Ein paar Hocker neben Chloe wiegte sich die
A&R
-Tante im Takt zur Musik und lächelte. Sie war begeistert.
Ich stand auf. Die Leute um mich her sangen mit; wie ich kannten sie das Lied seit ewigen Zeiten, aber für sie bedeutete es etwas anderes. Für sie klang es nach süßem Herzschmerz und Nostalgie. Ein Song, den schon ihre Eltern gehört hatten. Auf Familienfesten, Konfirmationen oder Hochzeiten wurde
Wiegenlied
rauf und runter gedudelt. Und es funktionierte. Auch hier. Die Wirkung war unübersehbar; die Leute reagierten positiv und emotional, fuhren voll auf das Lied ab, und zwar mehr, als Ted es sich in seinen kühnsten Kartoffel-Träumen hätte ausmalen können.
»Selbst, wenn ich dich verlasse«,
sang Dexter, während ich mich durchs Gewühl Richtung Bar drängte.
»Dies Wiegenlied klingt fort ...«
Ich ging zur Toilette, wo ausnahmsweise niemand anstand, und schloss mich in eine der Kabinen ein. Setztemich, fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar und zwang mich zur Ruhe. Dieser Song bedeutete nichts, gar nichts. Mein ganzes Leben lang hatte ich zugelassen, dass andere Menschen ihm Bedeutung verliehen, bis er so schwer war, dass er mich runterzog, als würde ich ertrinken. Aber es war nur Musik. Trotzdem, sogar hier, eingeschlossen auf dem Klo, bedrängte sie mich, diese Melodie, die ich auswendig wusste, seit ich mich erinnern konnte. Sie klang jetzt anders, gesungen von einem anderen Mann. Aber wieder war es ein Mann, den ich kaum kannte und der trotzdem einen Platz in meinem Leben beanspruchte.
Was hatte meine Mutter früher gesagt, wenn wir die verkratzte Platte anhörten, die sie von meinem Vater besaß?
Sein Geschenk für dich
, sagte sie dann jedes Mal und strich mir mit versonnener Miene das Haar aus der Stirn. Als würde ich erst später wirklich begreifen, was dieses Geschenk bedeutete. Doch damals hatte sie die miesen Zeiten mit meinem Vater ja auch längst verdrängt. Zeiten, die ich nur aus Erzählungen kannte: wie arm sie waren; dass er sich nie um Chris kümmerte, als der noch ein Baby war; dass er sie nur geheiratet hatte, um ihre Beziehung zu retten, obwohl es dafür längst zu spät war (absurderweise stellte sich diese Trauung später als gesetzlich ungültig heraus). Was für ein Vermächt nis ! Was für ein Geschenk! Als hätte ich in einer däm lichen Spielshow verloren und würde mit einer Großpackung Fertiggerichte und einem billigen Kofferset abgespeist, bevor man mich aus dem Studio bugsierte. Schwacher Trost.
Der letzte Takt. Das Becken summte metallisch zum Abschluss. Riesenapplaus, Jubel, Pfiffe. Es war vorbei.
Na dann. Ich verließ die Toilette und ging zur Bar, wo Chloe gelangweilt auf einem Hocker saß.
Truth Squad
spielte jetzt ein Medley aus klassischen Rock-Songs – viel Geschrei und krachende Gitarren –, das das Ende des Sets einleitete. Der Typ, der mit Chloe gequatscht hatte, war weg. Lissa redete immer noch mit dem, der nicht so niedlich, aber okay war. Und Jess hatte sich – vermutlich mit einer ihrer Standardausreden – verkrümelt und musste entweder »kurz telefonieren« oder »eben was aus dem Auto holen«.
»Wo steckt der Surfer?«, fragte ich Chloe. Sie rutschte zur Seite, um auf ihrem Hocker Platz zu machen.
»Feste Freundin.« Sie deutete auf eine Nische links von uns, wo der Typ inzwischen an einer Rothaarigen mit gepiercter Augenbraue rumnuckelte. Ich nickte verstehend. Ted ließ seine Arme wie Windmühlenflügel über die Gitarre kreisen, während John Miller sich bei einem Schlagzeugsolo vollkommen verausgabte; sein Gesicht war schon fast so rot wie seine Haare. Ob Scarlett wohl schwer beeindruckt war? Ich konnte es nicht überprüfen, weil sie nicht mehr an ihrem Tisch saß.
»Interessant, der Song vorhin«, meinte Chloe. »Kam mir irgendwie bekannt vor.«
Ich antwortete nicht, sondern guckte nur stumm zu, wie John Miller das Schlagzeug bearbeitete. Die Leute klatschten begeistert mit.
»Mann, er hätte wirklich wissen müssen, dass du den Song nicht ausstehen kannst«, fuhr sie fort. »Ich meine, das ist schließlich Basiswissen, wenn man dich auch nur ein bisschen kennt.«
»Halt die Klappe, Chloe«, sagte ich leise.
Ich spürte, dass sie mir einen erstaunten Blick zuwarf, bevor sie weiter mit dem Finger in ihrem Drink rumrührte.
Nur noch eine Person befand sich jetzt zwischen mir und der
A&R
-Tusse; sie hatte sich vom Barkeeper einen Stift geliehen und notierte sich etwas. Der Barkeeper sah ihr interessiert
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