Zu feindlichen Ufern - [3]
dass die Dinge zum Vorteil eines Menschen verliefen. Auf Kummer folgte Erlösung, und die Tugendhaften wurden für ihre Standhaftigkeit und ihre noblen Taten belohnt. Den Unzuverlässigen und Willensschwachen hingegen war in dem Roman auf lange Sicht kein Wohlergehen beschieden – wenn sie nicht gar schlichtweg bestraft wurden. In der Welt von Henriettas Roman gab es Ordnung. Jenseits der Bibliothek indes, oder zumindest jenseits von Box Hill, herrschte Chaos. Diese Welt entzog sich der Kontrolle einer Miss Henrietta Carthew. An einem solchen Ort bestand die Gefahr, dass eine gewisse französische Emigrantin die Zuneigung eines Mannes gewann, den Henrietta für den standhaftesten und edelmütigsten aller Männer gehalten hatte.
Sie schaute auf die Seite, die sie geschrieben hatte, und merkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Hier und da waren einzelne Wörter verwischt, die Tinte war stellenweise zerlaufen. Rasch griff sie nach dem Taschentuch, das sie für solche Notfälle bereitliegen hatte, und tupfte sich die Tränen fort. Schließlich lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, schätzte die Schäden auf dem Blatt Papier ab und gab einen Laut von sich, der wie ein Lachen und wie ein Schluchzen zugleich klang.
»Du bist doch unmöglich«, schalt sie sich selber mit leisen Worten. »Heulst hier auf dein wertvolles Buch und ruinierst die Seiten. Deiner Heldin, der könnte so etwas passieren.« Sie nahm ein Blatt Papier und begann, der teilweise ruinierten Seite Luft zuzufächeln, in der Hoffnung, die kleinen Lachen trocknen zu können, deren winzige Adern aus Tinte langsam zerliefen.
Im selben Moment vernahm Henrietta eiliges Trappeln vor der Bibliothekstür, die kurz darauf aufflog. Auf der Schwelle stand Henriettas jüngste Schwester Penelope, schwer atmend und mit geröteten Wangen, als wäre sie aus einem entlegenen Winkel des Hauses herbeigeeilt.
»Sie ist hier!«, verkündete Penelope sehr viel lauter, als Henrietta es für nötig erachtet hätte.
»Und wer, bitte schön, ist diese ›Sie‹?«, fragte Henrietta.
»Elizabeth, natürlich. Auf wen warten wir sonst seit drei Tagen? Sie unterhält sich gerade mit Mama.«
Henrietta erhob sich. »Nun, dann muss ich wohl mitkommen, nicht wahr?«
Penelope warf einen Blick über die Schulter und drückte sich dann gegen den Türrahmen. »Hier ist sie! Hier ist sie!«, intonierte sie und zitterte vor Aufregung.
Im selben Augenblick wehte Elizabeth in die Bibliothek.
»Aber du schließt dich hier jetzt nicht den ganzen Tag mit Henri ein, Lizzie, oder?«, fragte Penelope mit flehendem Blick. »Sie ist furchtbar mürrisch, musst du wissen – weil – nun, wir dürfen seinen Namen nicht aussprechen. Aber sie ist schrecklich griesgrämig und überhaupt keine gute Gesellschafterin.«
»Sei versichert, meine liebe Penelope, ich werde jeden besuchen, der meine Gesellschaft ertragen kann.«
»Versprochen?«
»Von ganzem Herzen.«
Ein leises Zittern der Vorfreude durchrieselte Pen erneut, ehe sie ihrer Schwester einen Blick zuwarf, dann in einen Knicks sank und den Raum genauso schnell verließ, wie sie gekommen war.
Elizabeth Hertle drückte die Tür ins Schloss. Die beiden Frauen umarmten sich. Tatsächlich warf Henrietta sich in die Arme ihrer Cousine und spürte, dass ihr wieder Tränen über die Wangen liefen. Hartnäckig versuchte sie, diese verräterischen Tränen zurückzuhalten, und biss sich verzweifelt auf die Unterlippe.
»Wie geht es dir, meine Liebe?«, erkundigte sich Elizabeth, als die beiden sich aus der Umarmung lösten.
»Nicht so gut, wenn ich ehrlich bin.«
Sie nahmen auf dem Sofa Platz und wandten sich einander zu. Elizabeth musterte ihre Cousine eingehend. »Du siehst wirklich nicht gut aus. Ich vermute, du bist schon eine Woche nicht mehr an der frischen Luft gewesen. Heute Nachmittag werden wir beide einen schönen, langen Spaziergang machen. Darauf bestehe ich.«
»Ich denke, ich werde ein wenig frische Luft schnappen …« Henrietta schloss die Augen. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass er sich so verhalten hat …«, flüsterte sie und war kaum in der Lage, die Worte hervorzubringen. Schließlich ließ sie ihren Tränen freien Lauf und suchte Halt an Elizabeths Schulter.
»Nur zu, meine Liebe. Es schmerzt mich, wenn ich dich so untröstlich sehe. Mit seinem ungebührlichen Benehmen hat Charles deine Tränen gewiss nicht verdient.«
»Ich weiß auch nicht«, schluchzte sie, »ich kann nichts dafür.«
»Nein, dafür
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