Zu feindlichen Ufern - [3]
leise. »Ja, nichts heilt die Seele so gut wie die Dichtkunst, selbst wenn man sie nur unzulänglich beherrscht und schlechte Strophen verfasst. Leider ist die heilende Wirkung dieser Arznei von kurzer Dauer. Oft ist die Melancholie stärker als die zweifelhaftesten Reime …«
»Ja, wie leicht gerät man in einen dunklen Sog, der uns in die Tiefe zieht. Ich spüre es, wann immer Robert irgendwo da draußen auf hoher See ist und sich neuen Gefahren aussetzt. Lässt man erst einmal der Fantasie freien Lauf, verliert man sich in allen möglichen Schreckensbildern.«
»Eine lebhafte Vorstellungskraft ist nicht immer unbedingt ein Geschenk.«
Sie verfielen in Schweigen, und Henrietta umschloss die Hand ihrer Cousine. Sie war so sehr von ihrem eigenen Kummer vereinnahmt, dass ihr entgangen war, wie sehr Elizabeth von ihren eigenen Ängsten beherrscht wurde.
»Lass dir dein Recht auf Glück nicht von deiner Furcht wegnehmen, meine Liebe«, sagte Henrietta. »Wir wissen ja beide, dass Kummer und Sorgen nichts als Seelenqualen hervorbringen.«
»Ja«, sprach Elizabeth traurig, »aber es ist so schwierig, sich von diesem Abgrund fernzuhalten. Immer versucht der Geist, näher an den Abgrund zu treten und in die gähnende Tiefe zu spähen.« Eine Träne lief ihr über die Wange. Unwillkürlich tupfte Henrietta sie fort.
Elizabeth schaute auf. »Dein Taschentuch ist ja ganz feucht!«
Henrietta lachte – sie konnte nicht anders. »Ich fürchte, ja.«
Elizabeth holte ihr eigenes Tuch hervor, das ebenfalls nicht mehr trocken war.
»Wir könnten sie auswringen und hätten genug Wasser für ein Bad«, meinte Henrietta, worauf sie beide lachen mussten.
»Wir sind aber auch zwei«, sagte Elizabeth schließlich.
»Sollte ich irgendwann wieder im Entferntesten daran denken, mich nach einem Marineoffizier umzusehen, Lizzie, dann rüttele mich wach. Ich bin nicht gemacht für ständige Sorgen.«
»Ich auch nicht, aber mir bleibt keine andere Wahl.«
»Mir auch nicht«, sagte Henrietta traurig und kämpfte erneut gegen Tränen an.
»Wann sollte es denn zeitlich günstiger sein als jetzt?«, fragte Henry Wilder.
Frank Beacher und sein Schulfreund saßen vor Mr Carthews Sammlung, deren Einzelstücke sich auf Tischen, Regalen und auf dem Boden verteilten. Es sah so aus, als hätte man die »Sammlung« stets unter der Maßgabe erweitert, die Tür zu öffnen und die jüngst erworbenen Exemplare einfach in den Raum zu werfen, ohne darauf zu achten, wo sie landeten. Die Holztafeln mit aufgespießten Insekten lehnten unsortiert an Tischen, auf denen sich Behälter mit Föten befanden. Knochen und Fossilien lagen herum, sodass es fast aussichtslos war, ein ganzes Skelett zusammenzusetzen – selbst wenn man alle Knochen zur Hand gehabt hätte. Hoch oben von einem Regal stierte die beiden Männer ein ausgestopftes Vielfraß an, an einer Wand lehnten Stoßzähne von Elefanten und Narwalen und drohten jeden Augenblick umzufallen.
»Man hat der armen Henrietta gerade erst das Herz gebrochen, sie ist arg enttäuscht und verzweifelt. Ich denke daher nicht, dass unter diesen Gegebenheiten ein Antrag von mir angebracht wäre.«
»Ich schlage dir ja nicht vor, dass du gleich um ihre Hand anhalten sollst, Beacher. Ich will dir doch nur sagen, dass du offen bekennst, was du für sie empfindest. Sie ist dir schon einmal aus den Händen geglitten – weil du zu schüchtern warst, wie ich vielleicht anmerken darf. Lass dir diese zweite Gelegenheit nicht entgehen. Eine dritte wirst du nicht bekommen.«
»Aber es erscheint mir dennoch nicht – angemessen, wenn ich bedenke, wie sehr sie enttäuscht wurde …«
»Ach, jetzt zerbrich dir doch nicht den Kopf, was angemessen ist! Es geht um dein Glück.« Wilder fixierte seinen Freund mit einem verzweifelten Blick. »Und es geht auch um das persönliche Glück von Miss Henrietta, wenn ich dir das kurz in Erinnerung rufen darf. Denn ich glaube, dass du sie glücklich machen wirst. Wie sollte es auch anders sein, zumal du doch schon dein ganzes Leben lang ihr glühendster Verehrer bist?« Wilder hielt seinem Freund einen toten Käfer in der offenen Hand hin. »Sieh dir diesen Prachtkäfer an! Hast du je seinesgleichen gesehen?«
Beacher schüttelte wie abwesend den Kopf. »Nein, aber …«
»Du hast Angst, sie könnte dich abweisen«, unterbrach Wilder ihn forsch. »Gib es zu. Und das ist ja auch nachvollziehbar, Beacher. Du klammerst dich lieber an die noch so kleine Hoffnung, als erfahren zu
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