Zu feindlichen Ufern - [3]
verehrungsvoller Blick auf ihr ruhte – als hätte sie nicht schon genug Probleme. In diesem Moment fasste sie den Entschluss, noch am selben Abend mit Frank darüber zu sprechen, damit er sich nicht länger falsche Hoffnungen machte. Zugegeben, es wäre ein herber Schlag für ihn, aber Henrietta hielt es für besser, wenn Frank die Situation richtig einschätzte, um ein klareres Bild von der Zukunft zu haben. Schließlich hatte er ein Recht zu wissen, wie es um ihn stand, anstatt sich in einer Mischung aus Sehnsüchten und Träumen zu verrennen.
Ja, diesen Schritt musste sie unternehmen, um Mr Beachers willen. Vielleicht sah er ja dann Penelopes Verehrung in einem anderen Licht. Und Pen bräuchte ihr, Henrietta, nicht mehr zu grollen. Sie fühlte sich sofort besser, auch wenn sie ein leises Zittern bei dem Gedanken verspürte, offen mit Mr Beacher zu sprechen. Doch sie war fest entschlossen, ihre innere Unruhe zu überwinden. Bliebe nur die Frage, wie sie ihre Gedanken am besten in Worte fasste, ohne Frank zu verletzen – aber sie vertraute darauf, dass ihr bis zum Abend noch etwas einfallen würde.
»Henrietta?«, hob Mr Carthew an und unterbrach seine Tochter in ihren Gedanken. »Wie kommst du mit deinem Roman voran?«
»Nicht gut, Vater. Ich komme einfach nicht weiter, bin stecken geblieben. Die Autorin hat sich in einer Ecke verstrickt und findet nicht mehr heraus.«
»Aber was ist so schwierig, meine Liebe?«
Henrietta befürchtete, ihr Vater würde ihr dieselbe Lebensregel vorbeten, die zuvor Anne zu hören bekommen hatte. »Ich wünschte, ich wüsste es«, erwiderte sie.
»Sie kann sich noch nicht entscheiden, wie es genau mit den beiden Charakteren weitergeht«, ließ Elizabeth die anderen wissen.
»Aha, und wie kommt das?«, fragte der Hausherr verwundert.
»Das ist alles ganz einfach«, bot sich Penelope an. »Die Intellektuelle sollte unter die Räder einer Kutsche geraten, während die Langeweilerin einen ebenso langweiligen Landadligen heiratet und voller Langeweile bis an ihr Lebensende lebt. Schluss und aus. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Ich denke, das Problem ist tiefgründiger«, belehrte Frank Beacher die jüngste Carthew-Schwester. »Macht Wissen eine Person glücklich, oder führt nicht womöglich ein gewisser Grad an Ignoranz zur Zufriedenheit? Kann man wissen, was in der großen, weiten Welt vor sich geht, und trotzdem noch glücklich sein? Das ist eine sehr ernst zu nehmende Frage, die sich nicht ohne Weiteres beantworten lässt.«
»Und man wird auch die Frage stellen müssen«, meldete sich erneut Elizabeth zu Wort, »wenn es stimmt, dass unsere Zufriedenheit in demselben Maße abnimmt, wie unser Wissen zunimmt, sollten wir dann eher nach noch mehr Wissen und Erkenntnis streben oder uns lieber ganz zurückziehen? Aber was ist der Preis des Nichtwissens? Und was der Preis der Erkenntnis?«
»Ja, fürwahr«, sinnierte Mr Carthew und fuhr fort: »Ich frage mich, wie sich jeder Einzelne von uns entscheiden würde. Wie steht es mit dir, Cassandra? Glück oder Erkenntnis?«
»Ich vertrete die Ansicht, dass man beides haben kann. Sollte das aber nicht der Fall sein, so würde ich mich für die Erkenntnis entscheiden.«
»Anne, was meinst du?«
»Erkenntnis, ganz gleich, wie hoch der Preis ist.«
»Ihre Meinung, Mr Beacher?«
Frank wirkte ein wenig verunsichert, und sein Blick huschte zu Henrietta. »Wenn ich die Wahl zwischen den beiden hätte – dann würde ich mich am Tag für die Erkenntnis entscheiden und in der Nacht für das Glück.«
»Wie meinst du das?«, forschte Cassandra nach und sah ihn an, als habe er dies im Scherz gemeint.
»Damit meine ich, dass sich des Nachts all unsere Sorgen auf uns herabsenken und uns unserer Zufriedenheit berauben. Wenn man dann in den frühen Morgenstunden aufwacht, kann die Welt mitunter wie ein sehr bedrohlicher und verabscheuungswürdiger Ort wirken. Deshalb wäre es am besten, man würde sich des Nachts für das Glück und die Zufriedenheit entscheiden. Tagsüber jedoch kommen uns die Sorgen, die uns in der Nacht drücken, weniger beunruhigend vor, und daher sollten wir uns für die Erkenntnis entscheiden.«
»Sollte es dir gelingen, die Dinge so herbeizuführen, Beacher«, stellte Mr Carthew fest, »so hoffe ich, dass du uns allen erzählst, wie du das geschafft hast.«
»In der Tat«, meinte Mrs Carthew. »Pen, was meinst du?«
»Zufriedenheit. Nur ein Narr würde sich entscheiden, unglücklich zu sein.«
»Aber diese
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