Zu feindlichen Ufern - [3]
Jeden Morgen macht er seine langen Spaziergänge – und ist noch so gut zu Fuß, dass manch ein jüngerer Mann neidisch werden könnte. Er ist im Kopf vollkommen klar, hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, wenn man einmal von den kleinen, unbedeutenden Dingen des Alltags absieht, die er nicht behält – wann es Essen gibt, zum Beispiel, oder all die Dinge, die er Mrs Carthew versprochen hat zu tun. Nein, Henrietta, ich bin überzeugt davon, dass deine Bedenken unbegründet sind.« Er lächelte.
»Das freut mich zu hören«, antwortete sie, während sie sich im Stillen für ihre Feigheit schalt. »Dann werde ich mich wieder meinem Besuch widmen, Frank. Danke, dass du mich in diesem Punkt beruhigen konntest.«
»Keine Ursache«, erwiderte Frank und wirkte erneut verunsichert.
Unbeholfen verließ Henrietta das Speisezimmer und verfluchte sich selbst.
Eine Stunde später begab sie sich in Begleitung von Elizabeth in die Bibliothek.
»Du hast also mit Frank gesprochen?«, fragte ihre Cousine und strich sich den Rock glatt, als sie sich setzte.
Henrietta zündete eine Kerze an und warf sich dann regelrecht auf das Sofa. »Ja, ich habe mich mit ihm unterhalten«, räumte sie ein, »aber nur kurz. Ich konnte ihm einfach nicht sagen, was mir auf der Seele brennt. Stattdessen habe ich mich bei ihm nach dem Gesundheitszustand meines Vaters erkundigt. Ich denke, dass Frank unser ganzes Gespräch eher – seltsam fand.«
»Du liebe Güte!« Elizabeth wirkte ratlos.
»Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, ihn zu verletzen«, sagte Henrietta, ahnte sie doch schon die nächste Frage. »Ich sah diese Hoffnung in seinen Augen und – da konnte ich es ihm nicht sagen. Ach, was bin ich für ein Feigling!«
»Geh nicht so hart mit dir ins Gericht, Henri. Es ist nicht leicht, die Hoffnungen eines anderen Menschen zu zerstören, insbesondere dann nicht, wenn einem etwas an dem anderen liegt. Frank ist wahrlich ein netter, freundlicher Mann. Ich kann verstehen, warum du ihn nicht verletzen willst.« Sie sah ihre Cousine durchdringend an. »Und du bist dir sicher, dass dies der Grund war, Henri?«
»Was meinst du damit?«, entgegnete Henrietta etwas zu forsch. »Denkst du etwa, ich bin heimlich für Frank Beacher entbrannt?« Nach einer kurzen Pause setzte sie nach: »Das glaubst du doch nicht, oder?«
»Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, warum du es nicht übers Herz bringst, ihn in seinen Hoffnungen zu enttäuschen. Ich habe so etwas schon einmal gehört. In jenem Fall wurde die Person sich erst dann über ihre wahren Gefühle bewusst, als die andere Person, der die unerkannte Zuneigung galt, nicht mehr länger vor Ort bleiben konnte oder seine Aufmerksamkeit jemand anders schenkte. Aber dann war es zu spät …«
»Nun, das ist bei mir absolut nicht der Fall«, unterbrach sie ihre Cousine. »Übrigens besteht ja durchaus eine Bindung zu Frank Beacher – denn schließlich kenne ich ihn schon fast mein ganzes Leben lang, und er ist, wie du richtig bemerktest, ein lieber, freundlicher Mensch. Aber meine Zuneigung ist wie bei einer Schwester und einem Bruder. Mehr nicht. Wenn Frank etwas anderes für mich empfindet – nun, ich habe ihn jedenfalls nie dazu ermuntert, sich Hoffnungen zu machen. Ich bin einfach nur zu feige und zu weichherzig, um ihn zu verletzen. Das ist alles. Da ich erst kürzlich selbst verletzt wurde, weiß ich, wie schmerzhaft so etwas sein kann, und möchte es keinem anderen zufügen. Schon gar nicht Frank, der es nun wahrlich nicht verdient hat zu leiden.«
»Ich möchte dir in dieser Angelegenheit noch eine Sache mit auf den Weg geben, Henri, aber dann lasse ich dich damit in Ruhe. Höre auf dein Herz. Frank Beacher ist ein gut aussehender Mann aus gutem Hause, der intelligent und liebenswert ist und Perspektiven hat. Eines Tages wird eine junge Frau seine Zuneigung gewinnen, und dann stellst du vielleicht fest, dass deine Gefühle ganz anderer Natur waren, als du immer dachtest. Aber dann wird es zu spät sein, um etwas zu ändern.«
»Wenn dieser Tag kommt, werde ich mich für Frank freuen und kein bisschen Bedauern verspüren – nun, vielleicht werde ich ein klitzekleines Bedauern verspüren, aber das wäre ja nur menschlich, oder?«
»Das stimmt schon«, antwortete Elizabeth, ehe sie sehr nachdenklich dreinblickte. Schließlich sagte sie: »Ich habe mich gefreut, dass sich deine Laune bei unserer abgrundtief erbärmlichen Dichtkunst sichtlich aufgehellt hat.«
Henrietta lachte
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