Zu gefährlicher Stunde
Ted.
»Ja, gestern Abend. Er hat heute Morgen
angerufen und gesagt, er werde vermutlich erst morgen wiederkommen. Du kannst
ihn über Handy erreichen.«
»Sonst noch was?«
»Mutter Nummer eins hat angerufen.«
Nachdem einige telefonische Nachrichten durcheinandergeraten waren, titulierte
Ted meine Adoptivmutter und meine leibliche Mutter als Nummer eins und zwei.
»Sie hat sich erkundigt, weshalb du nicht zurückgerufen hast, obwohl sie dir
gestern Abend eine Nachricht hinterlassen hat.«
»Und die Antwort wollte sie von dir
hören?«
»Sie hält mich anscheinend für
allwissend. Und warum hast du nicht zurückgerufen?«
»Ich habe lange gearbeitet und war, als
ich nach Hause kam, nicht in der Stimmung dazu. Aber warum erzähle ich dir das
eigentlich, wenn du sowieso alles weißt?«
Ted lachte. »Was glaubst du, wie ich an
meinen reichen Wissensschatz gelange? Indem ich mir von Leuten alles mögliche
erzählen lasse. Jedenfalls wollte sie dich daran erinnern, dass dein Bruder
John am Donnerstag Geburtstag hat.«
»Was soll das nur? Ich habe seinen
Geburtstag noch nie vergessen.«
Ted sagte nichts. Wir beide wussten
genau, wo das Problem lag: Seit sich mein anderer Bruder Joey letztes Jahr das
Leben genommen hatte, klammerte Ma sich umso fester an ihre verbliebenen
Kinder. »Wenn sie noch mal anruft, sag ihr, dass ich es nicht vergessen habe
und sie heute Abend anrufe. War das alles?«
»Jules ist gekommen. Sie sitzt am
Schreibtisch und starrt auf den Bildschirm, aber ich merke, dass sie nichts
tut.
»Immerhin ist sie gekommen. Wir müssen
ihr ein bisschen Zeit lassen. Stellst du mich bitte zu Mick durch?«
»Abteilung Computerforensik, Ford am
Apparat«, meldete sich eine gewandte Stimme.
»Derek?«
»Ja. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin’s, Sharon. Sie klingen sehr...
förmlich.«
Schweigen. »Ich verbinde Sie mit Mick.«
»Hi, Shar.«
»Was ist los? Derek klingt wie ein
Techniker bei einer Hotline.«
»Und wie klingen die?«
»Roboterhaft und unaufrichtig.«
Mick wiederholte den Satz, worauf ich
Derek im Hintergrund lachen hörte. »Okay, es war zu dick aufgetragen«, meinte
mein Neffe. »Wir versuchen nur, unsere Rolle zu definieren.«
»Eure... Rolle?«
»Das Gesicht, das wir der
Öffentlichkeit präsentieren.«
»Warum muss das anders sein als
bisher?«
»Na ja, die Klienten, die unsere
Abteilung anspricht, unterscheiden sich ein wenig von der üblichen Kundschaft
der Agentur.«
»Tatsächlich?«
»Erstens sind es eher Firmenkunden.
Höhere Managementebene. Wir brauchen ein Image, das Vertrauen weckt.«
Ein Image. Gott steh mir bei!
»Ich habe jetzt keine Zeit für diese
Diskussion, Mick.« Obwohl du sicher sein kannst, dass es eine geben wird — und
zwar bald. Dann fügte ich hinzu: »Im Moment musst du mir einige
Informationen beschaffen.«
»Klar doch. Und welche?« Jetzt war er
ganz sachlich — und entsprach damit genau dem »Image«, das ich von meinen
Mitarbeitern erwartete.
»Wo das Zitrusfest stattfindet.«
»Das weiß ich auch so. Letztes Jahr
haben Sweet Charlotte und ich die Festivaltour absolviert — du weißt schon,
Knoblauch in Gilroy, Äpfel in Sebastopol.«
Und ob ich das wusste. In Kalifornien
gibt es mehr Feste für Obst und Gemüse als irgendwo sonst auf dieser Welt, und
ich finde es manchmal bedenklich, dass die Menschen den Dingen, die sie in den
Mund stecken, mit solcher Verehrung begegnen. Das schlimmste Beispiel war
sicherlich das inzwischen eingestellte Schneckenfest in Guerneville am Russian
River, bei dem Gourmetköche um die besten Gerichte aus riesigen, schleimigen
Bananenschnecken wetteiferten. »Das Zitrusfest findet also wo statt?«
»In Cloverdale. Im Norden von Sonoma
County. Jeden Februar, seit über hundert Jahren. Aber was das Beste ist: In der
Gegend wachsen seit Jahrzehnten nicht mehr genügend Zitrusfrüchte, nicht einmal
mehr für die Dekoration. Was glaubst du, woher sie die kriegen?«
»Aus Südkalifornien?«
»Denkste, aus Florida!«
Ja, die Welt war wirklich verrückt.
Ich bat Mick, in Cloverdale nach Leuten
mit dem Nachnamen Jeffers zu suchen und dann zurückzurufen. Ich hängte ein und
fuhr nach Los Alegres.
Da ich auf dem kleinen Flugplatz östlich
des altmodischen Städtchens Fliegen gelernt hatte, kannte ich mich im Zentrum
aus und fand problemlos zur Apotheke ABC Drug, die gleich neben dem
öffentlichen Parkhaus an der Main Street lag. Ich stellte meinen Wagen im
Parkhaus ab und betrat den Laden, der eine
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