Zu Grabe
Gespannt las er weiter.
Ebla, 29. Juni 1975
Obwohl ich die ganze Nacht kaum geschlafen habe, bin ich hellwach und bei bester Laune. Wie es scheint, beflügelt das Entzücken über den gestrigen Fund meinen Körper und Geist.
Matthiae hat sämtliche Anwesenden von ihren Posten abgezogen und zur Arbeit in der unterirdischen Kammer eingeteilt. Wir werden ab heute, Tag und Nacht, in Schichten von jeweils zwölf Stunden die darin liegenden Tontafeln bergen und inventarisieren. Die Stimmung im Team ist euphorisch, und alle arbeiten mit großem Eifer und Enthusiasmus. Trotz der miserablen Verpflegung, den langen Schichten und der heißen Sonne Syriens, die erbarmungslos auf unsere Köpfe brennt, sind keine Klagen und Beschwerden zu vernehmen – ganz im Gegenteil: Wohin man das Auge auch richtet, trifft der Blick auf lächelnde Gesichter.
Ich bin heute der Abendschicht zugeteilt worden und kann es kaum erwarten, Artefakte in meinen Händen zu halten, auf die das letzte Mal vor mehr als 4000 Jahren das Licht der Sonne gefallen ist.
Er hielt unvermittelt inne und musterte voller Erstaunen den folgenden Eintrag. Irgendetwas musste mit Novak geschehen sein, denn seine Schrift hatte sich verändert: Sie wirkte schlampiger, die Tinte war an manchen Stellen verschmiert, und die einzelnen Buchstaben waren noch ungelenker als bisher. Sie wirkten so, als wären sie in großer Eile oder unter enormer Anstrengung geschrieben worden. Aufgeregt machte er sich daran, das Gekritzel zu entziffern.
Ebla, 30. Juni 1975
Mein Herz schlägt so schnell, und meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum in der Lage bin, diesen Eintrag abzufassen. Ich bin verwirrt, und meine Gefühlswelt bewegt sich zwischen übersprudelnder Verzückung und bedrückender Scham.
Heute früh war ich der Letzte, der am Ende der Schicht die Kammer verließ. Ich wollte gerade nach oben klettern, als ich im Licht der aufgehenden Sonne in einer Ecke etwas glitzern sah. Bei dem funkelnden Gegenstand handelte es sich um eine goldene Tafel, die in einer Ecke aus dem Sand der Jahrhunderte herausblitzte. Vom ersten Augenblick an hat mich ihr Anblick hypnotisiert. Sie ist kleiner und filigraner als die Tontafeln und nicht nur mit Schriftzeichen, sondern auch mit verschiedenen bildlichen Symbolen versehen. Ich glaube, mehrere Augenpaare und eine Art Fischwesen ausmachen zu können – noch nie zuvor habe ich etwas Ähnliches gesehen.
Ich weiß, dass ich sie Matthiae oder Pettinato zeigen sollte, doch irgendetwas in mir sträubt sich dagegen. Da ist dieses komische Gefühl, das sagt, dass die Tafel mir gehört. Mir gehören will. Es ist, als hätte sie mich in ihren Bann gezogen, als hätte ich die Kontrolle über mein Denken und Handeln verloren. So als hätte die Tafel einen eigenen Willen, den sie mir durch irgendeine besondere Form der Telepathie aufdiktiert. Ich habe daher beschlossen, sie vorerst zu behalten und trotz der heftigen Proteste meines Gewissens niemandem von meinem Fund zu erzählen.
Ebla, 1. Juli 1975
Ich habe die fremden Worte und Symbole auf der Tafel genauestens studiert. Der Gedanke, dass sie vor Jahrtausenden von einem sumerischen Beamten, Priester oder vielleicht sogar König geschrieben wurden, fasziniert mich aufs äußerste. Leider bin ich, was die Dechiffrierung von Keilschrift anbelangt, nicht sehr bewandert und werde daher mit der Transkription so lange warten müssen, bis ich wieder in Wien bin. Ich wage nicht, mir vorzustellen, welche Geheimnisse sich mir nach der Übersetzung eröffnen werden. Ich glaube nämlich, einen Begriff zu erkennen, und was dieses eine Wort bedeuten könnte, will ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen ausmalen. Es ist nur ein Wort. Aber seine Bedeutung bringt meine Phantasie zum Überkochen und all meine Sinne zum Jauchzen. Es ist nur ein Wort. Aber mit ihm könnte eine archäologische Sensation verbunden sein, die mindestens genauso groß und elementar wäre wie die Entdeckung von Troja, der Höhle von Lascaux, des Grabes von Tutanchamun oder der Schriftrollen von Qumran. Es ist nur ein Wort. Aber es könnte meine gesamte Zukunft verändern. Nur ein Wort: ALULIM .
»Es ist schön, daß es dem Menschen so schwer wird,
sich vom Tode dessen, was er liebt, zu überzeugen,
und es ist wohl keiner noch zu seines Freundes Grab gegangen
ohne die leise Hoffnung, da dem Freunde wirklich zu begegnen.«
Johann Christian Friedrich Hölderlin
Der nächste Tag begann mit einem stürmischen Klingeln an
Weitere Kostenlose Bücher