Zu Grabe
von fortgeschrittenem Alterswahnsinn. »Beim besten Willen, Frau Horsky. Das geht ja wohl überhaupt nicht.«
»Alles geht. Man muss es nur wollen! Hier.« Sie drückte dem Chefinspektor ein Kuvert in die Hand. »Ich habe Ihnen ein Empfehlungsschreiben organisiert.«
»Sie haben WAS ?« Morell riss den Umschlag auf und starrte auf das Schreiben, das sich darin befand. »Wer zur Hölle ist Thomas Reiter?«
»Das sind Sie.«
»Ich?«
»Nun ja, eigentlich ist Thomas Reiter mein Neffe. Er hat mehrere Sommer lang als Aushilfe bei ›Somnus Bestattungen‹ gearbeitet. Dort bin ich gestern vorbeigegangen und habe um eine Referenz für ihn gebeten.«
Morell, dem allein bei dem Gedanken an Leichen alle Haare zu Berge standen, schüttelte den Kopf. »Bei aller Liebe, Frau Horsky, aber meine Antwort lautet nein. Ich werde auf gar keinen Fall als Bestatter arbeiten, zumal ich, wie Sie wissen, wegen einer ganz anderen Sache in Wien bin.«
»Auch nicht, wenn ich Ihnen erzähle, dass das Schicksal, dieser unzurechnungsfähige Idiot, wie Sie es so schön nannten, diesem Laden da drüben den Auftrag für die Novak-Bestattung zugeschanzt hat? Eine bessere Gelegenheit, um unauffällig an die Angehörigen ranzukommen und die Unschuld meines unverschämten Nachbarn zu beweisen, werden Sie nicht bekommen.«
Der Chefinspektor überlegte. Wo Frau Horsky recht hatte, hatte sie recht. »Das stimmt schon, aber trotzdem … ich weiß nicht … Was, wenn die Leute von der Pietät niemanden brauchen?«
»Glauben Sie mir – Bestattungsunternehmen können immer jemanden wie Sie gebrauchen. Es ist schwer, Leute zu finden, die keine perversen Nekrophilen oder Leichenfledderer sind.«
Morell starrte die alte Dame mit weit aufgerissenen Augen an.
»Sie müssen gar nicht so entsetzt schauen! Glauben Sie mir – ich war lange genug im Bestattungswesen tätig. Da erlebt man alles.«
Morells Unlust auf die ganze Aktion steigerte sich gerade von groß zu unermesslich.
Frau Horsky bemerkte sein Zögern. »Sie sind der einzige Polizist, den ich kenne, der das Herz am rechten Fleck hat. Schauen Sie mich an. Ich bin alt. Wer weiß, wie lange ich noch habe. Fünf Jahre? Drei? Ein paar Monate? Vielleicht erlebe ich den nächsten Tag nicht mehr. Ich habe nur noch einen letzten Wunsch, bevor ich sterbe: Ich will wissen, was mit meinem Sohn passiert ist.«
»Ich weiß nicht …« Morell merkte, dass er langsam weich wurde.
»Sie müssen ja nicht lange dort arbeiten. Nur ein paar Tage. Bitte. Tun Sie es für mich. Tun Sie es für Benedikt. Oder von mir aus tun Sie es für den ungehobeltsten Nachbarn aller Zeiten.«
»Na gut«, gab Morell nach. »Aber nur für einen oder zwei Tage.«
»Ist in Ordnung.« Frau Horsky lächelte und streckte Morell ihre kleine Mumienhand entgegen. »Schlagen Sie ein.«
»Zum Grab kehrt jeder, wo sein Körper haust,
empfängt sein Fleisch zurück und die Gestaltung.
Und hört, was ewig widerhallend braust.«
Dante Alighieri, Die göttliche Komödie
Capelli studierte gerade die toxikologische Auswertung von Novaks Blut, als Chefinspektor Weber ihr kleines Büro in der Sensengasse betrat.
»Sie müssen die Neue sein«, stellte er fest und streckte ihr seine Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Roman Weber, Chefinspektor. Herzlich willkommen in Wien.«
Die Gerichtsmedizinerin musterte den kleinen Mann. Das war also der Kerl, der ihren Freund in Untersuchungshaft gesteckt hatte. Auf den ersten Blick wirkte er gar nicht so unsympathisch, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.
Weber deutete auf die Unterlagen in Capellis Hand. »Ich bin eigentlich nur gekommen, um mich kurz vorzustellen. In Wahrheit ist das Ganze hier nämlich bloß noch eine reine Formsache – wir haben den Mörder bereits verhaftet.«
Mit diesen Worten hatte er die soeben erst bei ihr gewonnenen Sympathiepunkte schon wieder verspielt. Sie presste die Zähne zusammen und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Tatsächlich? Sie haben den Täter also schon gefasst. Das ging aber schnell.«
Weber schien diese Feststellung als Kompliment aufzufassen, denn er grinste Capelli offen an. »Die Beweislage war mehr als nur klar. Für ein gutes Ermittlerteam sollte so ein simpler Fall kein Problem darstellen.«
Capelli atmete tief durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus. Es nutzte weder ihr noch Lorentz, wenn sie Weber jetzt an die Gurgel sprang. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen und so viel wie möglich aus der
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