Zu Grabe
Situation herausschlagen. Vielleicht schaffte sie es ja, ein paar Zweifel zu streuen. Sie tat deshalb so, als würde sie beeindruckt nicken. »Jetzt verkaufen Sie sich aber völlig unter Wert, Herr Weber. Sooooo leicht war es doch sicher nicht, oder?«
Weber setzte ein zufriedenes Grinsen auf und ließ sich lässig auf einen Stuhl fallen. »Ob Sie es glauben oder nicht, für ein erfahrenes Team wie das meine war es tatsächlich so einfach. Die Indizien sprechen eine klare Sprache.«
»Und was sagt Ihnen Ihr Gefühl?«
»Bei einer ordentlichen Ermittlung gibt es keinen Raum für Gefühle. Was zählt, sind Fakten. Und in diesem Fall sind die Fakten unmissverständlich. Ich schau mir dann jetzt mal die Obduktionsergebnisse an, ja?« Weber beugte sich vor und streckte seine Hand aus.
Nina reichte ihm die Unterlagen. »Es geht mich ja nichts an, aber sind Sie sich nicht ein wenig zu sicher, was den Mörder angeht? Es heißt doch immerhin: In dubio pro reo.«
»Sie haben recht: Es geht Sie nichts an. Und wie schon gesagt: Es gibt in diesem Fall kein dubio.« Er blätterte die Ergebnisse durch. »Kann ich vielleicht einen Kaffee kriegen?«
Die Gerichtsmedizinerin war schwer versucht, sich ein Skalpell zu schnappen und Weber sein süffisantes Grinsen aus dem Gesicht zu schneiden. Sie musste das Zimmer verlassen, bevor sie etwas Unbedachtes tat. Mit verbissener Miene drehte sie sich also um und ging in den Flur, wo ein Kaffeeautomat stand.
»Mit Milch und Zucker«, rief Weber ihr hinterher.
»Ich bin Gerichtsmedizinerin und keine Kellnerin, du Wicht«, murmelte sie und drückte auf die Taste für schwarzen Kaffee.
»So ein Pech, Milch und Zucker waren leider aus.« Capelli knallte den kleinen, braunen Plastikbecher so ruppig auf den Tisch, dass beinahe die Hälfte des Kaffees herausschwappte.
»Danke trotzdem.« Weber nahm einen Schluck, verzog den Mund und schloss die Akte. »Wie ich mir schon gedacht habe«, sagte er. »Die Obduktionsergebnisse widersprechen in keiner Weise meiner Theorie.«
»Aber sie untermauern sie auch nicht.«
Eisiges Schweigen machte sich breit.
»Ich habe keine Ahnung, wie es in Innsbruck abläuft, Frau Capelli«, unterbrach Weber schließlich die unangenehme Stille. »Hier in Wien ist es jedenfalls so, dass die Gerichtsmediziner Obduktionen durchführen und sich abgesehen davon nicht weiter in die Arbeit der Polizei einmischen. Glauben Sie mir – ich weiß, was ich tue. Und wenn ich Ihnen sage, dass die Sachlage eindeutig ist, dann ist das auch so. Herr Lorentz hatte ein Motiv, und seine Fingerabdrücke wurden überall am Tatort gefunden. Er hat kein Alibi, und mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass schon seit längerem eine offene Feindschaft zwischen ihm und dem Opfer bestand. Außerdem hat der Nachbar von Prof. Novak beobachtet, wie Herr Lorentz zur Tatzeit den Tatort verließ.«
»Was hatte denn der Nachbar des Opfers mitten in der Nacht vor dem Archäologiezentrum zu tun?«, wunderte sich Capelli.
»Er hatte seine Gründe.«
Capelli wusste, dass es nichts brachte, weiter nachzufragen. Weber hatte auf stur geschaltet, und wenn sie es sich nicht völlig mit ihm verderben wollte, war es wohl besser, jetzt den Mund zu halten.
Weber schaute auf seine Uhr. »Ich muss jetzt los. Sollten Sie noch weitere Zweifel an meiner Kompetenz beschleichen, dann können Sie mich ja anrufen.« Er reichte Capelli eine Visitenkarte, verabschiedete sich und verließ den Raum.
»Der Nachbar also«, murmelte Capelli und warf die Visitenkarte in hohem Bogen in den Papierkorb. »Den wird sich Otto mal genauer anschauen, und dann werden wir ja sehen, wie weit es mit Ihrer Kompetenz tatsächlich her ist.«
»Es wehet Dunst mir wie aus einem Grabe zu!«
Aischylos, Agamemnon
»Worauf habe ich mich da bloß eingelassen.« Morell stapfte über die Straße und war böse auf sich selbst. Warum war er nur immer so gutmütig? Warum wurde er sofort weich, wenn eine hilflose Person ihn mit großen Augen anschaute und ihm eine rührselige Geschichte erzählte?
Er blieb vor der Tür des Bestattungsunternehmens stehen. Noch war er nicht drinnen. Noch konnte er einen Rückzieher machen. Er spähte über seine Schulter. Frau Horsky stand auf der anderen Straßenseite, und als sie sein Zögern bemerkte, fing sie an, mit ihrem Spazierstock herumzufuchteln.
»Ich will nicht!«, zeterte der Chefinspektor leise vor sich hin. Und wahrscheinlich hätte er es sich doch noch anders überlegt und die Flucht ergriffen,
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