Zu Grabe
zusammen etwas trinken.«
Morell konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass Payer in Wahrheit über gar nichts nachgedacht hatte, sondern einfach nur auf der Suche nach einem Saufkumpan war. »Sind Sie sicher, dass Ihre Neuigkeiten wirklich relevant für den Fall sind?«, hakte er daher nach.
»Wie relevant meine Neuigkeiten sind, kann ich selbst nicht beurteilen. Kommen Sie doch vorbei und bilden Sie sich Ihre eigene Meinung.«
»Worum genau handelt es sich denn?«
»Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie da sind. Also, bis gleich!«
»Aber ich … Hallo? Herr Payer?« Zu spät – Payer hatte schon aufgelegt. Morell versuchte mehrmals, den Archäologen zurückzurufen, aber er hob nicht mehr ab.
Zornig starrte der Chefinspektor auf das Telefon in seiner Hand. Wie hatte es nur so weit kommen können? Erst ließ er sich von einer kleinen, alten Dame herumkommandieren, und jetzt tanzte ihm auch noch dieser kauzige Weihnachtsmannverschnitt auf der Nase herum. Er betrachtete sein Abbild, das sich in der Auslage der Pietät spiegelte, und hätte am liebsten laut aufgeschrien. Wann war er nur zu diesem zimperlichen, übergewichtigen Weichei geworden, das ihm da aus dem Schaufenster entgegenblickte? Kein Wunder, dass Valerie ihn verlassen hatte und Weber sich über ihn lustig machte.
Er ballte die Hände zu Fäusten, presste die Lippen aufeinander und starrte sein Spiegelbild trotzig an. Er musste aufhören, sich derart gehenzulassen und so passiv zu sein – sonst würde er bald endgültig zu einer dicken Witzfigur mutieren und auch noch den letzten Funken an Respekt und Selbstachtung verlieren. Noch konnte er das Ruder herumreißen, und das würde er auch tun. Morell reckte sein Kinn in die Höhe. Er würde ab sofort die Dinge selbst in die Hand nehmen: Er würde abnehmen, Lorentz’ Unschuld beweisen, das Rätsel um Benedikt Horsky lösen und damit Valerie und Weber zeigen, dass er ein ganzer Kerl und ein ernstzunehmender Polizist war.
»Kein Gejammer, keine Schwäche«, murmelte Morell wie ein Mantra, während er sich voller Tatendrang und guter Vorsätze aufmachte, um zu hören, was Payer zu sagen hatte. Er musste sogar ein wenig schmunzeln, als er sich der Ironie bewusst wurde, dass er gerade von einem Ort, an dem tote Menschen fürs Begraben vorbereitet wurden, zu einem anderen fuhr, wo es darum ging, sie wieder auszubuddeln.
»Kein Gejammer, keine Schwäche«, wiederholte der Chefinspektor erneut, als er kurze Zeit später das Institut für Ur- und Frühgeschichte betrat. Gleich würde die erste Bewährungsprobe für seine guten Vorsätze folgen: Er würde sich anhören, was der Professor zu sagen hatte, aber sich auf gar keinen Fall zum Schnapstrinken nötigen lassen.
Als er die Tür von Payers Büro öffnete, war er aufs Neue von der Masse der Bücher, die sich in dem kleinen Raum befand, überwältigt. Payer, der mittendrin im Chaos saß, winkte ihm euphorisch zu. »Da sind Sie ja! Kommen Sie herein, setzen Sie sich!«
Morell schlängelte sich durch den labyrinthartigen Bücherdschungel und ließ sich auf dem Hocker vor Payers Schreibtisch nieder. »Also, was haben Sie für mich?«, fackelte er nicht lange herum.
Das wettergegerbte Gesicht Payers formte ein breites Grinsen. »Ich habe mir Gedanken zum Thema Enthauptung gemacht und bin auf ein paar interessante Ansätze gestoßen.«
»Und die hätten Sie mir nicht auch am Telefon erläutern können?«
»Natürlich, aber persönlich macht das Reden doch viel mehr Spaß.« Payer grinste und zog ein vollgekritzeltes Blatt Papier aus einer Schublade.
Der Chefinspektor wollte nach der Notiz greifen, aber der Professor entzog sie ihm und versteckte sie hinter dem Rücken. »Erst trinken wir einen kleinen Schnaps zusammen.«
Morell holte tief Luft und erinnerte sich an sein neues Credo. Wenn er es tatsächlich schaffen wollte, hier in Wien nicht völlig unter die Räder zu kommen, dann musste er lernen, nicht ständig nachzugeben. Payer und sein Schnaps waren dafür eine gute Übung. »Herr Payer, geben Sie mir jetzt bitte die Notizen.«
»Erst das Schnapserl. Nachdem Ihnen gestern mein Marillenwässerchen so gut geschmeckt hat, habe ich nämlich heute eins aus Quitten mitgebracht – zum Kosten.« Der Professor schraubte bereits eine Flasche auf und machte sich daran, zwei Gläser einzuschenken.
Morell ignorierte das Grauen im Glas und streckte seine Hand nach dem Papier aus. »Es tut mir wirklich leid, aber ich bin im Dienst. Außerdem habe ich
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