Zu Grabe
christlichen Märtyrer versammelt. Auf Andachtsbildern, Medaillons und sogar auf Tellern ließen Männer und Frauen in jeder nur erdenklichen Fasson ihr Leben für den Glauben. Da wurde gekreuzigt, geköpft und gevierteilt, was das Zeug hielt. Ein Mann, laut Beschriftung der heilige Laurentius von Rom, wurde sogar auf einem eisernen Rost zu Tode gegrillt. Morell schauderte und griff nach einem Teller, auf dem eine Steinigung abgebildet war. Wer zum Teufel kaufte nur so etwas?
»Das ist der heilige Stephanus – der Erzmärtyrer. Er wird bei Besessenheit, Kopfweh und für eine gute Sterbestunde angerufen.«
Morell fuhr erschrocken herum, fasste sich ans Herz und ließ dabei beinahe den Teller fallen. »Halleluja, Sie haben mich aber erschreckt.«
»Tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Ich war gerade dabei, das Lager aufzuräumen, und muss dabei wohl die Türklingel überhört haben. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Morell, dessen Herz noch immer bis zum Hals schlug, stellte mit zitternder Hand den Teller zurück. »Ich suche Wilfried Uhl.«
»Sieht so aus, als hätten Sie ihn gefunden.«
Morell musterte Uhl. Dieser stinknormale Kerl sollte ›Crazy Willie‹ sein? Der Mann vor ihm wirkte alles andere als unkonventionell oder gar durchgeknallt. Ganz im Gegenteil – Uhl war die Durchschnittlichkeit in Person: Er war Ende fünfzig, mittelgroß, weder dick noch dünn, hatte kurzes, graumeliertes Haar und ein unauffälliges, glattrasiertes Gesicht. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und darüber ein Kord-Sakko. Noch gewöhnlicher und normaler ging es kaum. Von Crazyness keine Spur. Nun ja, den meisten Leuten sah man ihre Verrücktheit nicht an, und der verborgene Wahnsinn war meist um einiges schlimmer als der offen nach außen ausgelebte. Und jemand, der einen Laden wie diesen hier betrieb, konnte wohl tatsächlich nicht ganz normal sein.
»Mein Name ist Morell, und ich ermittle im Fall Novak. Haben Sie davon gehört?«
»Wer hat das nicht. Die Zeitungen sind ja voll davon. Der arme Vitus.«
»Sie haben den Toten also gekannt.«
»Ja, wir haben vor einer halben Ewigkeit zusammen studiert.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Ich habe mich mit der trockenen Materie gelangweilt und das Studium abgebrochen. Bin danach ein paar Jahre durch die Welt gezogen und habe mich dann mit meinem kleinen Laden hier selbständig gemacht.«
»Und den Kontakt zu Ihren ehemaligen Kollegen haben Sie nicht aufrechterhalten?«
»Nein, wir haben uns nach meinem Ausstieg völlig aus den Augen verloren. Aber warum fragen Sie das alles? Ich dachte, der Fall sei bereits aufgeklärt.«
Der Chefinspektor beobachtete Uhl genauer. Täuschte er sich, oder hatte er gerade einen Hauch von Panik in der Stimme seines Gegenübers vernommen? »Es gibt da noch ein paar kleine Ungereimtheiten, die ich gerne klären möchte, und ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen können.«
»Ich? Ich habe Vitus seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Das macht nichts. Was mich interessiert, liegt schon einige Zeit zurück. Im Jahr 1978, um genau zu sein. Die Ausgrabungen auf dem Tell Brak. Sie und Novak haben damals zusammengearbeitet, nicht wahr?«
Uhl nickte. »Was hat denn das mit dem Mord zu tun?«
»Genau das versuche ich herauszufinden. Ich brauche deshalb so viele Informationen wie möglich über diese Expedition.«
Uhl grübelte, und Morell entging nicht, dass sich dabei kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. »Das ist so wahnsinnig lange her. Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Ich weiß nur noch, dass die Arbeit anstrengend und ziemlich langweilig war.«
»Es gab also keine besonderen Vorkommnisse oder irgendwelche spektakulären Funde?«, hakte Morell weiter nach.
»Nein!« Uhl lachte auf und schüttelte dann vehement den Kopf. »Mit Sicherheit nicht! Es sei denn, Sie bezeichnen Dreck und Steine als spektakulär.«
Morell ließ nicht locker. Im Laufe seiner Karriere hatte er schon oft mit Leuten zu tun gehabt, die ihm direkt ins Gesicht gelogen hatten – und Uhl war einer von ihnen. Das konnte er an dessen Mimik und Gestik erkennen. »Es gibt aber das Gerücht, dass Novak Geld verdiente, indem er wertvolle Funde auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Sein Lebensstil entsprach nicht unbedingt dem eines normalen Archäologen.«
»Das ist mit Sicherheit nur blödes Gerede. Vielleicht hat Novak ja reich geheiratet oder im Lotto gewonnen. Es gibt viele Wege, an Wohlstand zu gelangen – aber Archäologie ist
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