Zu Grabe
in diesem Fall um eine alte Frau –, die seit mehreren Tagen unbemerkt in ihrem Apartment gelegen hatte und jetzt alles andere als schön anzusehen oder angenehm zu riechen war.
Es war feucht und kalt im Obduktionscontainer und die schweren Regentropfen, die einen düsteren Trauermarsch auf das Metalldach trommelten, machten die Stimmung auch nicht gerade besser. Nina stand mitten im Dunst von Elend, Zerfall und Einsamkeit. Die alte Frau war mutterseelenallein in ihrem Bett gestorben, und niemand hatte sie vermisst. Erst als der süßliche Gestank des Todes so stark war, dass man ihn nicht mehr ignorieren konnte, hatten die Nachbarn die Polizei gerufen. Die Leiche war zu diesem Zeitpunkt bereits so verfault gewesen, dass man die Todesursache von außen nicht mehr bestimmen konnte – daher wurde sie in die Gerichtsmedizin gebracht.
»In dieser Stadt leben viele Menschen sozial isoliert. Sie haben meist keine Angehörigen und Freunde. Wer soll also merken, dass sie sterben? Es ist nicht das erste Mal, dass ein Toter ein paar Wochen, Monate oder gar Jahre in seiner Wohnung herumliegt«, stellte Kern, der wieder als Capellis Assistent fungierte, trocken fest und griff nach einer Rippenschere.
Capelli nickte und fröstelte. Sie wusste nicht, ob es an dem traurigen Schicksal der alten Dame, der Kälte im Container oder an einer sich anbahnenden Grippe lag –, jedenfalls war ihr kalt, und sie wollte diese Obduktion so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Auf geht’s«, sagte sie und setzte das Skalpell an.
Ungefähr zwei Stunden später hatte das Trommelfeuer des Regens nachgelassen und Capelli ihre Fassung wiedererlangt. Die Routine war mit dem ersten Schnitt zurückgekommen, und sie hatte mit ruhiger Hand und sicherem Blick ihre Arbeit getan und eine natürliche Todesursache festgestellt. Jetzt notierte sie sich die letzten Daten für ihren Bericht, während Kern die Organe der Frau wieder zurück in den Körper legte.
»Sie müssen mir noch Ihre Adresse geben, damit ich Sie heute Abend abholen kann«, sagte er und versuchte einen dicken Faden durch das Öhr einer Nadel zu bugsieren.
»Heute Abend?« Capelli schaute ihn fragend an.
»Sagen Sie bitte nicht, dass Sie es vergessen haben. Sie wollten doch heute mit zu einer Party kommen.« Er begann, die klaffende Öffnung, die der Y-Schnitt in der lederartig verhärteten Haut hinterlassen hatte, wieder zuzunähen.
Capelli legte ihre Notizen beiseite und fasste sich an die Stirn. »O je, das habe ich tatsächlich völlig vergessen. Ich habe gerade so viel um die Ohren. Sie wissen schon … der Umzug und so …«
»Geben Sie sich einen Ruck. Sie wirken so, als hätten Sie ein bisschen Aufheiterung dringend nötig, wenn ich das sagen darf.« Er zwinkerte.
Capelli war irritiert. Täuschte sie sich, oder wollte ihr Assistent sie tatsächlich abschleppen? »Ich bin wirklich müde und habe noch unfassbar viel zu tun.« Sie wandte sich wieder ihrem Bericht zu und hoffte, dass die Sache damit erledigt war.
Kern ließ sich davon aber nicht beirren. »Ich werde die Feier nicht genießen können, wenn ich mir ständig vorstellen muss, dass Sie einsam und allein zu Hause sitzen.« Er schielte auf die tote, alte Frau.
»Und ich könnte die Feier nicht genießen, wenn ich mir ständig vorstellen muss, dass in meiner Wohnung ein Berg unerledigter Arbeit auf mich wartet.« Capelli beendete den Bericht und zog demonstrativ ihren Autoschlüssel aus der Tasche.
Als sie in ihr Auto stieg, spürte Capelli, dass sie keine Lust hatte, nach Hause zu fahren. Sie brauchte dringend etwas Abstand und Ruhe, um ihre Gedanken zu sortieren. Vor ein paar Tagen war ihr Leben noch völlig in Ordnung gewesen – und jetzt? Jetzt saß ihr Freund unschuldig im Gefängnis, sie lebte in einer wildfremden Stadt, weit weg von all ihren Freunden, hatte ihren Job aufs Spiel gesetzt, indem sie eine rechtswidrige Obduktion durchgeführt hatte, und musste nun auch noch die Annäherungsversuche ihres Assistenten abwehren. Sie unterdrückte ein lautes Fluchen und gab Gas. Der monotone Singsang der Scheibenwischer und das ruhige, gleichmäßige Dahingleiten der Reifen auf dem Asphalt beruhigten ihre Nerven. Autofahren hatte in ihren Augen etwas Entspannendes, beinahe schon Meditatives. Das gemächliche Fließen des Verkehrs, das Vorbeiziehen der Landschaft und das Gefühl, in Bewegung zu sein, ließen sie zur Ruhe kommen. Durch die Konzentration auf die Straße und das Durchführen
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