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Zu Hause in Almanya

Zu Hause in Almanya

Titel: Zu Hause in Almanya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aysegül Acevit
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reichen. Wollen die Arbeiter oder wollen sie Elitesoldaten?«
    Als der Arzt bemerkte, dass Turgut sich aufregte, kam er zurück und fragte nach, was los sei. Peinlich berührt erklärte ihm die Dolmetscherin, was Turgut gesagt hatte. Da lachte der Arzt:
    »Ja, mein Junge, Elitesoldat trifft es ganz gut. Die deutsche Wirtschaft braucht keine Schwächlinge, sie braucht starke Kerle!«
    Hoffnungsvoll schaute Turgut die Dolmetscherin an, die ihm die Worte übersetzte. Turgut war sprachlos.
    »Wie sind seine Daten, Fräulein? Die Zähne in Ordnung? Gehör gut? Aber 65 Kilogramm, das ist nicht viel, mein Junge, du musst noch viel essen und kräftiger werden. Dann können wir überlegen, ob wir dich nicht doch noch mitnehmen.«
    Turgut verstand nicht, was er sagte, aber er bemerkte den herablassenden Ton, in dem der Arzt sprach. Doch um seine Chance nicht ganz zu verspielen, schwieg er. Das taten fast alle Männer, die die Untersuchungen über sich ergehen ließen, und sie schwiegen sehr lange. Kaum einer von ihnen erzählte später seinen Angehörigen, wie er an diesem Tag untersucht worden war, als er für Deutschland ausgewählt wurde, denn es war ihnen schrecklich peinlich. Erst später, als die Männer älter und reifer wurden und die empfundene Demütigung fast vergessen war, da erzählten sie ihren Familien und Kindern, wie nur die Besten unter ihnen für Deutschland ausgesucht worden waren, und ein wenig waren sie auch stolz, dass sie dazugehört hatten.
    Der Bunker unter Gleis 11
    Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich zum Münchener Hauptbahnhof, und ich ahnte nicht, dass ich hier eine ungewöhnliche Entdeckung machen würde. Ich reise viel und gerne, aber in München war ich zuvor noch nie. Es war ein kühler Herbsttag, einer, an dem man den Kragen der Jacke hochklappt, den Schal ins Gesicht zieht und die Hände gar nicht aus den Taschen holen mag. Ich war gerade aus dem Zug ausgestiegen, lief die Gleise entlang und suchte den Ausgang.
    Zwischen wartenden und hektischen Passagieren hindurch, an Brezelverkäufern und Zeitungsständen vorbei lief ich die Gleise entlang und folgte dem Schild, das mir den Weg nach draußen zeigte. Dort sollte mich eine Freundin abholen.
    Im Gehen bemerkte ich aus den Augenwinkeln einen Treppenabgang und dachte mir zunächts nichts dabei. Dann aber stutzte ich und fragte mich, wo der Gang hinführen mochte. War es ein Keller? Ein Abstellraum? Ein unterirdischer Durchgang? Die Frage ließ mich nicht los, und so machte ich nach einigen Schritten kehrt und lief zurück, um der Sache mal eben schnell auf den Grund zu gehen.
    Zögerlich folgte ich den Stufen, eine nach der anderen, bis ich schließlich unten ankam. Ich sah einen beleuchteten großen Raum mit mehreren kahlen, leeren Zellen, in denen lange Bänke standen und die mit Gittertüren verschlossen waren. Komisch. Der Raum wirkte kalt und abweisend. Niemand hätte sich hier freiwillig aufgehalten. Die Decken waren niedrig, es gab keine Fenster, nur künstliches Licht, es war bedrückend und ungemütlich. Ich lief die Zellen entlang und schaute mich um. Als ich fast schon gehen wollte, sah ich ein Schild an der Wand, und als ich es las, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dies war ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch das Besondere an ihm war, dass in diesem Raum bis in die sechziger Jahre hinein die Gastarbeiter untergebracht worden waren, die mit Zügen aus Istanbul und Rom, aus Athen und Lissabon in München ankamen. Also auch mein Vater.
    Tausende junge Männer und Frauen saßen hier, stunden- oder vielleicht tagelang, bis sie von Bussen abgeholt wurden, die sie zu ihren künftigen Arbeitgebern brachten, oder sie mit Zügen weiterfahren konnten nach Köln, Hamburg oder Berlin. Die Arbeiter bekamen hier eine warme Suppe, während sie auf ihre Weiterreise warteten, und konnten sich erholen. Aber warum hier? Warum nicht oben? Die zuständigen Behörden sagten damals, den Deutschen solle der Anblick der Fremdarbeiter erspart werden.
    Für die Neuankömmlinge war das der Anfang ihres Abenteuers in Deutschland. Die meisten wurden von hier aus in Werkswohnungen gebracht, in Unterkünfte, die die Firmen für ihre Arbeiter bereitstellten. Es waren wohl die ersten Wohngemeinschaften des Landes, denn meist lebten in einem Zimmer bis zu zehn oder zwanzig Erwachsene, die auf Etagenbetten schliefen und sich eine Toilette, ein Waschbecken und einen Herd teilen mussten.
    Nachdem sie den Tag über am Fließband gearbeitet hatten oder

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