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Zu Hause in Almanya

Zu Hause in Almanya

Titel: Zu Hause in Almanya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aysegül Acevit
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Zusammenleben in der Kolonie brach eine Eiszeit herein und die Mitmenschlichkeit erstarrte. Es war, als ob die Uhren stehen geblieben wären und alles bis dahin Gewesene nur noch Erinnerung war. Eines Tages kamen Bulldozer in die Kolonie.
    Riesige gelbe Maschinen walzten alle Gärten nieder. Sie rissen die Drahtzäune ein und zertrümmerten die Ställe und Gartenhäuschen. Die Kaninchen wurden verkauft und die Kinder vertrieben. Riesige Maschinen ratterten und brummten tagelang und bedeckten die einstigen Gärten mit staubigen Steinen und Beton. Stück für Stück wurde aus dem fruchtbaren, schwarzbraunen Acker eine leere, graue, kalte Fläche. Es wurden Laternen und Garagen aufgestellt und man durfte dort weder spielen noch Fahrrad fahren. Außer den Autobesitzern kam kaum noch jemand dort hin. Wozu auch?
    Der Gürtelweg verschwand ebenfalls und der Beton kroch bis vor die Haustüren. Hohe Zäune grenzten die zu Terrassen erklärten Flächen ein. Auch zwischen den Häusern wurden Wände und Sträucher hochgezogen, und niemand konnte mehr seinen Nachbarn sehen. Nur noch durch den Zaun konnte man ein paar Worte miteinander wechseln, doch selbst das machte bald keiner mehr, denn man wusste nie, wer gerade auf der anderen Seite stand.
    Man konnte auch nicht mehr Fahrrad fahren und sich nicht mehr so einfach gegenseitig besuchen. Wenn man das tun wollte, musste man jetzt immer nach vorne auf die Straßenseite hinausgehen und dann über den Bürgersteig zu dem entsprechenden Haus gehen. Das war viel zu umständlich und niemand wollte in großem Bogen um die halbe Kolonie herumlaufen, um an der Haustür von jemanden zu klingeln und um Einlass zu bitten. Also lebte von nun an jeder für sich, und wenn ein Nachbar starb oder auszog und ein neuer kam, dann wusste niemand mehr, wer das war. Familien begannen wegzuziehen, und neue Leute zogen ein, die schicke Kleider trugen und große Autos fuhren. Die Kolonie hatte sich verändert, so sehr, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen war und sie niemand mehr »die Kolonie« nannte.
    Erst viel später verstand ich, was passiert war. Die Zechen hatten dichtgemacht, viele Arbeiter wurden entlassen. Die Häuser wurden modernisiert und verkauft, die neuen Mieten waren für die Arbeiterfamilien zu teuer. So wurde die Kolonie allmählich vornehm und still. Die neuen Bewohner schauten auf uns Arbeiterfamilien herab, ihre Kinder mochten nicht mit uns spielen. Wir waren nicht mehr alle gleich, nicht länger alle Nachbarn, die sich die Gärten und das Gemüse teilten. Jetzt waren wir geteilt, in Arme und Reiche, Ausländer und Deutsche, Großfamilien und Singles.
    Innerhalb weniger Jahre war aus unserer Kolonie eine andere Welt geworden. Aber nicht nur sie – das ganze Ruhrgebiet hatte sich verändert, und man nannte das den Strukturwandel.
    Die türkischen Arbeiterfamilien, die fast alle dort weggezogen sind, außer ein paar, die sich ihr Haus kaufen konnten und einen Zaun darum bauten, bekamen die Schattenseiten des Wandels am meisten zu spüren. Von den neuen Jobs in der ITBranche und den schicken Büros in den Neubausiedlungen des Ruhrgebietes bekamen sie nichts mit.
    Einige machten sich selbstständig mit Dönerimbissen oder Gemüseläden, andere fanden Arbeit in Fabriken und wieder andere wurden arbeitslos. Viele kehrten auch zurück in die Türkei. Auch meine Freundin Nurgül zog weg. Sie heiratete und ging mit ihrem Mann nach München, wo er eine neue Stelle fand. Wäre es nach uns Kindern gegangen, hätte es den Strukturwandel niemals geben müssen. Wir haben unsere Kindheit in der Kolonie geliebt.
    Der Schatz im Koffer
    Eigentlich wollte Hasan nur für seine Mutter eine Tasche im Internet versteigern. Damit fing alles an. Er bekam dafür so viel Geld, dass seine Mutter begeistert war von seinem Erfolg und er zur Belohnung das Geld behalten durfte. Da entschloss er sich, nach weiteren Dingen zu suchen, die er versteigern und damit sein Taschengeld aufbessern konnte.
    Er durchforstete die Schränke und Truhen in der Wohnung und stellte sämtliche Zimmer auf den Kopf in der Hoffnung, etwas Verkaufbares zu finden. Ein altes Radio, eine Gitarre seines Vaters, ein teures Kleid seiner Schwester, einen großen Spiegel, eine Werkzeugkiste und, und, und.
    »Hasan, O ðlum, mein Sohn, du kannst doch nicht das ganze Haus verkaufen, die Sachen brauchen wir noch«, sagte seine Mutter und riet ihm, es lieber im Keller zu versuchen, denn dort lägen schließlich nur Sachen herum, die keiner mehr

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