Zu Hause in Almanya
in der Kohlegrube, kamen sie abends erschöpft in ihr Zimmer – alle zusammen. Sie erzählten sich ihre Erlebnisse vom Tag, ihre neuen Eindrücke und ihre Flausen im Kopf und wurden ungewollt zu Freunden. Manche zückten ihre Wörterbücher und versuchten, einige Brocken der neuen Sprache zu lernen, manche konnten es nicht, weil sie nur schlecht lesen und schreiben konnten, manche waren zu erschöpft dafür oder hatten einfach keine Lust darauf. Sie kannten weder die Sprache ihrer deutschen Kollegen und Nachbarn noch ihre Lebensart oder ihre Denkweise. Genauso wenig, wie niemand die ihrige kannte. Der wohl größte Traum, den viele von ihnen hatten, war, viel Geld zu verdienen und bald wieder zurückzukehren zu Freunden und Verwandten. Ihre Lebensumstände waren nicht rosig, aber sie waren ja auch nicht hier, um Spaß zu haben. Vorübergehend, einige Jahre, wenn überhaupt, wollten sie arbeiten und dann wieder gehen. Nur so ließen sich wohl die schwierigen Umstände am Anfang ertragen, auch der Empfang im Bunker.
Damals wussten sie noch nicht, dass alles anders kommen würde, dass die deutsche Wirtschaft noch viel länger fremde Arbeitskräfte brauchen würde als geplant und es keinen Sinn ergab, dass sie gingen, nur damit neue kämen, die wieder angelernt werden müssten und so weiter und so fort. Auch wenn letztlich viele irgendwann zurückgekehrt sind, so sind die meisten doch geblieben. Wer hätte das damals gedacht, dort in dem kühlen Bunker unter Gleis 11?
Die Kolonie der Arbeiter
Wenn ich aus unserem Haus vor die Tür trat, dann stand ich immer vor einer riesigen Plantage – so kam es mir als Kind jedenfalls vor. Mais und Möhren, Paprika und Porree, Tomaten und Kartoffeln – alles blühte und gedeihte in unserer kleinen Siedlung im Ruhrgebiet. Sie wurde von allen »die Kolonie« genannt, und wenn man mich fragte, wo ich wohnte, dann sagte ich eben »in der Kolonie«.
Hier standen 40 bis 50 Häuser nebeneinander, in denen jeweils drei bis vier Familien wohnten, und bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sich ein Acker befand, so groß wie ein halbes Fußballfeld. Um den Acker herum, an der Rückseite der Häuser entlang, verlief ringförmig ein Weg, der sich wie ein Gürtel um ihn legte. Wenn man vor die Haustür trat und nach rechts oder links den Weg entlanglief, immer weiter, dann kam man nach einer Weile wieder an der gleichen Stelle an. Man konnte den Weg über schmale Gassen verlassen, die zwischen den Häusern hindurch- und aus dem Kreis hinaus zur Hauptstraße führten.
In den Gassen konnte man Verstecken spielen, auf dem Weg konnte man Verfolgungsjagden machen oder man konnte mit dem Fahrrad an den Häusern vorbeiflitzen, aber das hatten natürlich die Erwachsenen nicht so gerne. Sie gingen über den Weg zu ihren Parzellen auf dem Acker oder zu ihren Nachbarn hinüber, und dann passierten manchmal kleine Unfälle, wenn plötzlich ein Fahrrad um die Kurve geschossen kam.
Auf dem Acker hatte jede Familie ihren eigenen Garten und baute Gemüse an. Getrennt lediglich durch ein bisschen Draht, den die Väter und Mütter von Pfahl zu Pfahl gezogen hatten. Manche hatten sich auch kleine Häuschen gezimmert, in denen sie Geräte abstellten oder richtige Ställe hatten für Hühner und Kaninchen.
Die türkischen Familien waren erst vor wenigen Jahren aus der Türkei in die Kolonie gekommen und fühlten sich im Schoße der Natur sehr wohl. Die meisten stammten selbst aus ländlichen Regionen. Die Häuser der Siedlung gehörten der Bergbaufirma, die die Arbeiter angeworben hatte, und so wohnten in jedem Haus deutsche und türkische Arbeiterfamilien nebeneinander und hatten auch gemeinsame Gärten.
Manche Türken übten dort ihre speziellen Anbautechniken, die sie aus der Heimat kannten, und manche Deutsche zeigten ihnen, wie es hierzulande üblich war, wie man Regenwürmer zum Angeln züchtete oder Taubenmist vom Dachboden als Dünger verwendete. So machte es auch Onkel Willi, der direkt neben uns wohnte und auf seinem Dachboden gurrende, reizende Brieftauben hielt, mit weißem oder grauem Gefieder, schönen wachen Augen und grazilem Gang. Onkel Willi hatte schon viele Preise mit ihnen gewonnen. Der ganze Dachboden war durchdrungen vom scharfen Geruch der Tauben. Säckeweise verkaufte oder verschenkte Onkel Willi den Taubenmist an die Nachbarn, die damit ihre Gärten düngten.
Für uns Kinder war es ein Riesenspaß, um die Gärten herumzulaufen und zwischen den Sträuchern zu spielen. Meine Freundin
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