Zu Hause in Almanya
Nurgül wohnte in dem Haus, das unserem genau gegenüberlag. Manchmal rief meine Mutter über den Garten hinweg zu Nurgüls Mutter und sie verabredeten sich zum Teeklatsch oder gingen gemeinsam einkaufen. Nurgül hatte vier Geschwister, ihr Vater war schon in der Türkei ein Bergarbeiter gewesen und kein ungelernter Arbeiter wie viele andere. Unsere Familien waren wie Verwandte füreinander, denn richtige Verwandte hatten wir in Deutschland nicht. So ging es den meisten Familien. Alle waren alleine und hatten nur sich und ihre Kinder und ihre neuen Bekannten aus der Nachbarschaft und unter den Kollegen. Genau genommen war die Kolonie wie ein kleines Dorf, in dem jeder jeden kannte.
Die »kleine Frau«, küçük ka dýn , war Tante Anneliese. Sie hatte zwei Töchter und einen Mann, aber den sah man selten, weil er immer in der Kneipe war, sagten die Erwachsenen. Der Meister war ein alter Onkel, der schon seit vielen Jahren auf der Zeche arbeitete. Seinen richtigen Namen habe ich nie gekannt. Er stellte sich bei den Türken in der Siedlung immer nur als Meister vor. Im Sommer trug er kurze Hosen und Sandalen, er hatte spärliche weiße Haare, Bartstoppeln und einen runden Bauch. Vor seinem Haus, direkt am Gürtelweg, stand ein Kaninchenstall, und manchmal stellte er sich einen Liegestuhl und einen Sonnenschirm vor die Tür, machte sein kleines Radio an und entspannte sich.
Neben dem Meister wohnte Onkel Hasan mit seiner Familie und neben ihnen wohnte Tante Lena. Sie war die schönste Frau in der Kolonie. Sie war groß und hatte knallrote Haare, zwei Söhne und war geschieden. Auch sie hatte einen Stall vor dem Haus, in dem sie Kaninchen hielt. Als ihre Söhne größer waren, verschenkte sie die Kaninchen, räumte den Stall aus, und ab da kamen Fahrräder und Motorräder hinein.
Ein anderer Nachbar war Onkel Klaus. Er war dafür berühmt, dass er alles hatte, was Männer brauchten. Bohrmaschinen und Sägen, Äxte und Hämmer, Werkzeuge aller Art, und zwar so viele, dass sein Stall damit voll war, bis an die Decke. Er verlieh seine Sachen gerne, wenn er dafür eine Flasche Bier bekam oder sogar eine ganze Kiste.
Sein Nachbar war Onkel Mehmet, der mit ihm in derselben Grube arbeitete. Er kaufte sich irgendwann eine noch größere Kreissäge als Onkel Klaus, und dann dröhnte es in der ganzen Kolonie, wenn die beiden, »zuuuummm, zuuuummm«, um die Wette sägten.
Solche Wettbewerbe veranstalteten auch die Frauen manchmal, aber nicht mit Sägen, sondern mit Strick-, Stick- und Häkelnadeln. Sie versammelten sich vor dem Haus der küçük kadin , von Tante Ayten oder Tante Lena, stellten Stühle vor die Tür und zeigten sich gegenseitig die besten Häkelmuster, nach denen dann Kissen und Läufer und Vorhänge um die Wette gehäkelt wurden. In jeder Wohnung in der Kolonie gab es solche selbst gehäkelten Dinge. Eine Zeit lang war das sogar so modern, dass in jedem Auto auf der Heckablage eine Barbiepuppe in einem selbst gehäkelten, bunten Kleid stand, unter dem sich eine Klopapierrolle verbarg. Sie sollten übrigens spanische Mädchen darstellen, Flamencotänzerinnen mit wallenden Kleidern. Wenn eine Frau in der Kolonie ein neues Muster hatte, dann verbreitete sich dieses wie eine Laufmasche in der ganzen Nachbarschaft.
Manchmal veranstalteten die Familien vor ihren Häusern kleine Feste, und jeder, der wollte, konnte dabei sein, wenn der Weg ihn dorthin führte. Manchmal stellten wir Kinder uns auch nur in eine Ecke und schauten zu, wenn wir das Gefühl hatten, dass die Feiernden unter sich sein wollten. Es gab Polterabende, bei denen unzählige Teller und Gläser an den Hauswänden zerschellten, was die türkischen Familien mit amüsiertem Kopfschütteln über diese Verschwendung bedachten. Es gab Grillpartys und Kindergeburtstage, türkische Verlobungsfeiern und Beschneidungsfeste, und manchmal kam es auch vor, dass Männer vor einem Haus ihre Gebetsteppiche ausrollten und zusammen beteten. Aber sehr oft passierte das nicht. Es gab schließlich immer auch Nachbarn, die sich vor ihrer Tür in einer gemütlichen Runde ihren Raki oder ihr Bier gönnten, und das verträgt sich gar nicht gut mit Beten.
Die Kolonie war für uns Kinder wie ein riesengroßer Abenteuerspielplatz. Wir hatten alle Freiheiten zum Toben und Spielen und Schmutzigmachen, die man sich wünschen konnte, und die Bilder aus diesen Tagen stecken noch in vielen, vielen Fotoalben. Doch irgendwann, als wir älter waren, wurde alles anders. Über das
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