Zu Hause in Almanya
Deutschland geworden ist, und sie haben diese Zeit für die Integration der eingewanderten Menschen verschenkt. Wenigstens jetzt sollte die Politik anfangen, sich zu fragen, wie viele Leben diese Menschen hier leben müssen und wie viele fliegende Vögel sie aus der Luft fangen müssen, damit man sie als ihresgleichen akzeptiert.
Denn es gibt ein neues Phänomen, das für Deutschland doch sehr nachteilig ist. Viele junge Leute aus türkischen Familien, die zum Teil hier geboren wurden, sich bestens eingelebt haben, die gut ausgebildet sind, viele Sprachen sprechen und in vielen Ländern begehrt wären, wandern aus Deutschland aus, zurück ins Land ihrer Eltern. Jedes Jahr sind es mindestens 5 000, und über 30 Prozent der jungen Türken würden gerne gehen, wenn sie könnten. Vor allem sind es Akademiker. Sie haben keine Lust mehr, in Deutschland komisch angeschaut oder nicht respektiert zu werden, sich ständig die gleichen Vorurteile anzuhören oder benachteiligt zu werden. Serpil und die Neuen in ihrer Clique hatten es jedenfalls nach einer Weile gut geschafft, mit den Neuen zu »verwachsen«, wie man es auf Türkisch nennt. Kayna şmak sagt man dazu, was bedeutet, dass man trotz aller Unterschiede zusammengehört. So schwer kann es also doch nicht sein.
Alles Loser?
Jedes Mädchen braucht eine allerliebste Freundin. Mit ihr kann man tuscheln und tratschen, kann spielen, Geheimnisse austauschen und stundenlang zusammen sein, ohne sich zu langweilen. Sie sitzen in der Klasse zusammen oder treffen sich in der Pause oder nach der Schule. Sie machen zusammen Hausaufgaben und helfen sich gegenseitig, sie nehmen einander in Schutz und stehen sich immer bei, was auch passiert.
Zwei solche allerliebste Freundinnen habe ich einmal kennen gelernt, als sie auseinandergerissen werden sollten. Die Mädchen kam beide aus türkischen Familien und wohnten im selben Viertel. Eines Tages kam der Vater des einen Mädchens zusammen mit den beiden zu mir. Die Leute in der Nachbarschaft wissen, dass ich gerne helfe, wenn ich kann. So wollten die drei mich um Rat fragen, weil sie ein großes Problem hatten und sich im Schulsystem nicht so gut auskannten.
Die Mädchen waren aufgeweckt und nicht auf den Mund gefallen. Ihre Eltern kümmerten sich sehr um sie und ihre Geschwister, so wie das die meisten Eltern tun. Die eine der beiden, die nun in Begleitung ihres Vaters vor mir saß, sollte sogar Rechtsanwältin oder Politikerin werden, wenn es nach ihm gegangen wäre. So ehrgeizige Wünsche hatte er für sie. Die Tochter wurde nach besten Kräften gefördert, und dabei waren die Eltern einfache Leute: Hausfrau die Mutter, Handwerker der Vater.
Als sie an diesem Tag zu mir kamen, waren alle drei sehr aufgeregt. Eines der Mädchen weinte fast und der Vater war voller Wut: Zum Ende dieses Schuljahres, der vierten Klasse, sollte das Mädchen nach Empfehlung der Klassenlehrerin auf die Sonderschule.
»Ich will da nicht hin«, weinte sie, »meine Freundin geht auch nicht da hin. Ich will auf die gleiche Schule gehen wie sie.« Die Freundin hatte eine Empfehlung fürs Gymnasium.
» Nasýl olur? Wie kann das sein? Das geht doch nicht!«, sagte der Vater verzweifelt. »Warum soll sie auf die Sonderschule? Meine Tochter ist doch nicht krank. Nur weil sie vielleicht nicht so gut Deutsch sprechen kann, ist sie doch nicht dumm. Die Sprache kann sie doch lernen. Aber was soll sie auf dieser Schule? Sie macht immer ihre Hausaufgaben, sie ist fleißig und sie hat auch keine schlechten Freunde, wir kümmern uns doch um sie.«
So sah ich das auch und ermunterte den Vater, sich beim Rektor zu beschweren. Sollte das nichts helfen, dann käme ich gerne zum Schulamt mit, wenn es nötig sei, sagte ich.
Mit der Tochter an der Hand diskutierte der Vater mit Lehrern und Rektoren, ging zum Schulamt und zu Beratern, aber alle Mühe nützte nichts. Unter Tränen wurde seine Tochter auf der Sonderschule eingeschult. Ohne ihre Freundin. Die Begründung der Lehrer war, dass sie nicht gut genug Deutsch könne und sie befürchteten, dass sie es auf einer anderen Schule nicht schaffen würde.
Aber das eigentlich Erstaunliche war, dass sie nicht das einzige türkische Kind in der Nachbarschaft war, das mit dieser
»Empfehlung« auf die Sonderschule geschickt wurde. Es gab noch eine ganze Reihe anderer Kinder. Nur waren nicht alle Eltern so engagiert wie der Vater dieses Mädchens. Manche sagten, sie könnten ja sowieso nichts dagegen tun, manche meinten, die
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