Zu Hause in Almanya
geschlossen werden und die Lehrer wären arbeitslos, schließlich bekommen die Deutschen immer weniger Kinder.
Natürlich ist das nicht der wichtigste Grund. Vielmehr ist es eine sehr große Bereicherung, für jeden Menschen, überall auf der Welt, wenn er mit Menschen zusammentreffen kann, die anders erzogen wurden, andere Sprachen sprechen oder einen anderen Glauben haben. Je früher im Leben solche Begegnungen stattfinden, umso besser. Mir fällt zum Beispiel immer wieder auf, dass Deutsche, die ausländische Freunde haben, viel lockerer, entspannter und toleranter sind als jene, die nur mit Menschen zu tun haben, die so sind wie sie selbst. Und das gilt nicht nur für Deutsche, für alle anderen auch. Durch die Unterschiede kann man viel voneinander lernen, und die, die das wollen, tun es auch.
In der Fachsprache nennt man das »Diversity«, also Vielfalt. Die Manager großer Firmen wissen um den Wert von Mitarbeitern, die flexibel im Umgang mit anderen sind. Während man früher Jugendliche für viel Geld ins Ausland schicken musste, damit sie fremde Kulturen kennen lernen, können sie das heute tagtäglich in der Schule und in der Nachbarschaft tun.
Motivation und Zuspruch sind sehr wichtig für junge Menschen, doch gerade daran fehlt es türkischen Kindern und Jugendlichen sehr oft, wenn ihnen weniger zugetraut wird, wenn ihre Stärken nicht anerkannt werden oder sie ständig als Problem gesehen werden. Ist es ein Wunder, wenn sie dann nicht vorwärtskommen? Wenn die Eltern keine Kämpfernaturen sind oder sie keine Geschwister oder sonstige Personen haben, die ihnen helfen können, müssen sich oft alleine durchbeißen. Sie brechen dann vielleicht die Schule ab, obwohl sie einen guten Beruf hätten erlernen können, oder sie fangen gar nicht erst an, einen Ausbildungsplatz zu suchen, obwohl es so viele Berufe für sie gäbe.
Natürlich gibt es auch Eltern, die sich um die schulischen Leistungen und die Zukunft ihrer Kinder nicht kümmern. Solche verantwortungslosen Menschen gibt es unter Türken leider genauso wie unter Deutschen oder anderen.
Die Missverständnisse und Vorurteile, was das vermeintlich schlechte Image von Jugendlichen aus türkischen und anderen Zuwandererfamilien angeht, hören aber nicht mit dem Ende der Schulzeit auf, sondern gehen danach weiter.
So wurde zum Beispiel festgestellt, dass Bewerbungen auf Ausbildungsplätze und Arbeitsstellen fast doppelt so oft abgelehnt werden, wenn der Bewerber keinen deutschen Namen hat. Viele von ihnen landen schließlich frustriert in Berufen, die sie vielleicht gar nicht wollen, nur weil sie dort endlich nach zahlreichen Absagen eine Stelle bekommen haben. Viele reagieren auf die gefühlten Ungerechtigkeiten aggressiv und bedienen damit genau die Vorurteile, die man ihnen oft zuschreibt. Diese »selbsterfüllende Prophezeiung« frustriert wiederum jüngere Schüler und Lehrer, die diese Entwicklung miterleben. Die Spirale dreht sich weiter.
Die PISA-Studien haben gezeigt, dass nicht nur Zuwanderer, sondern auch deutsche Schülerinnen und Schüler aus bestimmten Bevölkerungsschichten benachteiligt werden. Viel wird derzeit darüber diskutiert, ob zum Beispiel die Hauptschulen abgeschafft werden sollen, damit jedes Kind, egal ob arm oder reich, ob Ausländer oder Deutscher, die gleichen Chancen für eine gute Ausbildung bekommt. Aber diejenigen, die darüber zu entscheiden haben, halten bislang noch hartnäckig am alten Modell fest, sodass sich auf absehbare Zeit wohl nichts an deutschen Schulen ändern wird.
Das kleine Mädchen, das mich damals mit ihrem Vater besucht hatte, ist inzwischen erwachsen geworden. Sie hat nach der Sonderschule noch einige Jahre lang Abendschulen besucht, dann das Abitur nachgemacht und später studiert. Sie ist heute Ärztin. Eine fast unglaubliche Karriere, die sie mit doppelter und dreifacher Anstrengung leisten musste und die längst kein Einzelfall ist, ich kenne noch einige andere wie sie.
Das Misstrauen, das sie als kleines Mädchen erfahren hat, erlebe sie immer noch, sagt sie. Manchmal würden deutsche Patienten sie aus dem Zimmer schicken, um die Ärztin zu rufen, weil sie nicht glauben wollen, dass sie selbst die Ärztin ist.
»Sie sehen gar nicht so aus«, würde man ihr oft sagen, oder:
»Wie können Sie Ärztin sein, sind Sie nicht Türkin?«
Es sei mühsam, dass sie sich dann jedes Mal von neuem Respekt verschaffen müsse, und mitunter müsse sie an sich halten, solchen Patienten die Spritze nicht
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