Zu Hause in Almanya
Lehrer wüssten schon, was das Richtige für die Kinder sei, und einige dachten, Schule sei schließlich Schule, egal welche. Unter den Nachbarn kursierte allerdings auch das Gerücht, dass die vielen Sonderschulüberweisungen einen ganz anderen Grund hätten. Angeblich drohte diese Schule wegen Schülermangels geschlossen zu werden. Um dies zu verhindern, wurden nun angeblich mehr türkische Kinder dorthin geschickt. Beweisen konnte das natürlich niemand, aber ganz falsch war ihre Vermutung womöglich nicht. Ein solches Vorgehen gibt es laut Schulexperten tatsächlich, wenn auch nicht unbedingt mit direkter Absicht, sondern unbewusst.
Die Freundin des Mädchens fühlte sich auf dem Gymnasium sehr wohl. Ihre Eltern waren Ärzte und sie hatte wirklich gute Noten, aber nicht jedes Kind hat schließlich das Glück, in eine Familie hineingeboren zu sein, in der genug Geld für Nachhilfe da ist, in der die Eltern mehr helfen können, weil sie selbst über mehr Wissen und Bildung verfügen, oder die so angesehen sind bei den Lehrern, dass diese ihrem Kind viel mehr zutrauen als anderen.
Einige Forscher haben die Leistungen von Schülern und Schulen in vielen Ländern untersucht und verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass nirgendwo in Europa Kinder aus ärmeren Familien, aus Familien von Zuwanderern und Kinder mit Behinderungen so sehr benachteiligt werden wie in Deutschland. »Institutionelle Diskriminierung« nennen das die Experten, eine Diskriminierung also, die von behördlicher oder institutioneller Seite, zum Beispiel eben vonseiten der Schule, geschieht.
Ihre Untersuchungen, die berüchtigten PISA-Studien, haben gezeigt, dass nirgendwo die Zukunft eines Kindes so sehr von seiner Herkunft abhängt wie bei uns. Während es in Ländern wie Schweden oder Norwegen relativ egal ist, wer die Eltern der Kinder sind, alle gleich gut gefördert werden und gleich gute Chancen haben, erfolgreich zu sein, hängt es in Deutschland vor allem vom familiären Hintergrund ab, von der beruflichen und gesellschaftlichen Stellung der Eltern. Dies führt zu großer Ungerechtigkeit.
Deutsche Kinder und Jugendliche sind hiervon ganz genauso betroffen wie ausländische. Das bestätigte auch ein UNO-Inspekteur, der die deutschen Schulen genauer untersuchte und die Kultusminister und das deutsche Schulsystem mit seinen drei Schularten hart kritisiert hat. Manche bezeichnen die Situation sogar als katastrophal und fordern die Zuständigen in den Ministerien auf, dringend etwas am System zu ändern. Doch das wird so bald nicht geschehen.
Viele Lehrer und Verantwortliche trauen bewusst oder auch unbewusst Kindern aus wohlhabenden Familien mehr zu als solchen aus durchschnittlichen oder ärmeren Familien. Ebenso bewusst oder unbewusst trauen sie deutschen Schülern mehr zu als ausländischen, also auch als türkischen Kindern. Man nennt das auch »defizitäre Sichtweise«, das heißt, es werden oft nur die Schwächen wahrgenommen, nicht aber die Stärken.
Einmal habe ich eine Reportage an einer Hauptschule gemacht. Dort sagte ein sehr netter, deutscher Lehrer zu mir, fast die Hälfte seiner Klasse seien ausländische Schüler, und das sei schrecklich. Seine Aussage schockierte mich, und ich fragte ihn: »Warum sollen wir denn schrecklich sein?«
Daraufhin beteuerte er, dass er das so ja gar nicht gemeint habe.
»Aber so hört es sich an«, sagte ich zu ihm. »Stellen Sie sich mal vor, wie sich die Schüler fühlen müssen, wenn alle ihre Lehrer sie als schrecklich bezeichnen, noch bevor sie sie überhaupt kennen.«
Ich hatte die Kinder in der Klasse interviewt – sie waren, soweit ich das sehen konnte, völlig normal, frech und fröhlich, so wie alle anderen. Andere deutsche Lehrer sahen das genauso. Sie unterrichteten gerne in der Klasse und glaubten, dass eher manche Kollegen die Problemfälle seien und nicht die Schülerinnen und Schüler. Diesen Eindruck hatte ich auch. Ich fragte mich, ob manche Lehrer nicht schlicht überfordert seien, wenn sie darauf eingestellt waren, deutsche Durchschnittsschüler zu unterrichten und stattdessen kunterbunte Klassen vor sich hatten. In ihrer Ausbildung würden sie darauf nicht vorbereitet, sagte der Lehrer mit dem »Ausländerschreck«.
Ich gab ihm den Tipp, die ganze Situation doch einmal positiv zu sehen. Schließlich sei es ein echter Glücksfall für die Schulen, dass es so viele Schülerinnen und Schüler mit ausländischer Abstammung gäbe. Sonst müssten die Schulen längst
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