Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
betroffen, weil wir erst seit kurzem im Exil leben mußten, während unsere Lagergefährtinnen schon durch viele Jahre in der Fremde ermüdet und gereizt waren. Wie auch immer, man apostrophierte uns beide häufig mit dem Satz: Naja, die Tschechinnen! Was wir gar nicht ungern zur Kenntnis nahmen. Bald begriffen wir jedoch: Hunderte Frauen auf felsigem Gelände in einigen primitiven Holzbuden zusammengepfercht, von bekannten und unbekannten Gefahren bedroht und absoluter Unsicherheit ausgesetzt, können im eintönigen Tagaus-Tagein nicht wohltemperiert und harmonisch zusammenleben. Illusionen waren hier fehl am Platz. Sowie freilich eine ganz konkrete Bedrohung aufkam, rückte man zusammen. Einzelne Ausnahmen – aus Angst, Feigheit, unbezwingbarem Selbsterhaltungstrieb oder sonst einer Schwäche – konnten daran kaum etwas ändern.
Für mich war es stets ein Lichtschein, wenn Kali plötzlich, in ihre bunten Tücher gehüllt, in unserer Barackentür auftauchte. Als es kalt war, kam sie mit ein paar getrockneten Grasbüscheln an.
»Tu das in deine Holzschuhe«, empfahl sie mir, womit sie die Holzpantinen meinte, die mit der Gefangenenkluft gefaßt wurden, »das wärmt die Füße.«
In der Hitze sommerlicher Hundstage, in denen die Baracke allmählich einem Brutofen glich, brachte sie mireinen glatten, kugeligen Stein, der überraschend kalt war und mit dem ich meine Fußsohlen und Hände kühlen sollte.
»Danke, Kali. Woher hast du dieses Wunderding?«
»Aus dem Bach«, teilte sie mir mit.
»Aber im Lager gibt es doch keinen Bach.«
»Nein«, ihr breiter Mund verzog sich zu einem noch breiteren Lächeln, »das sagst du richtig. Im Lager gibt es keinen Bach. Da mußte mir schon der liebe Gott verraten, wo ich einen schön gekühlten Stein suchen soll. Er meint es eben gut mit uns Zigeunern. Also merk dir: eine Weile unter die Fußsohlen, eine Weile in die Hände, und du bleibst frisch und kriegst kein Fieber und keine Leibschmerzen.« Damit nickte sie mir zu und verschwand. Jenseits des Stacheldrahtverhaus plätscherte ein eisiger Gebirgsbach.
Das felsige Gelände in Rieucros, das uns im Winter, festgefroren und mit einer Eiskruste bedeckt, schwer zu schaffen machte, hatte auch seine Vorteile. Mit uns war hier ein bißchen Natur gefangen. Über den Baracken, jedoch noch innerhalb des Stacheldrahtverhaus, befand sich ein stillgelegter Steinbruch. Ehe man dazu übergegangen war, in dieser öden Gegend Ausländerinnen zu internieren, hatte es hier ein Arbeitslager für Spanier gegeben, die nach der Niederlage ihrer Republik nach Frankreich geflüchtet waren. Die hatten uns (wußten sie, daß Frauen in ihre Behausungen einziehen werden?) ein Symbol zurückgelassen: In den hellen Sandstein waren zwei große Männerhände eingemeißelt, fest verbunden in kräftigem freundschaftlichem Druck. Er wirkte tröstend, war solidarisch, dieser Händedruck im Felsen über unseren Baracken. So deutete ich ihn mir wenigstens, und deshalb pilgerte ich gern zu ihm hinauf, hatte beinahe das Gefühl, von diesen Männerhänden gestreichelt zu werden.
Auf einem Felsbrocken hockend, schrieb ich in dem Steinbruch in die Hefte, die ich aus der Petite Roquette mitgebracht hatte; für mich selbst Märchen, in denen immerGut über Böse siegte, daneben auch lustige Liedertexte über die Misere und komischen Seiten des Lagerlebens, die dann bei Geburtstagsfeiern und ähnlichen Anlässen in unserer Baracke zum Vortrag kamen. Wenn sie die Frauen erheiterten, wenn die dann lachten, war ich froh. Daß mir die unverwischbaren schützenden Männerhände dabei halfen, wußte nur ich.
So »wohnte« ich in Rieucros, Virginia. Meine Erfahrung aus diesem unfreiwilligen, Tag und Nacht dauernden Zusammenleben ist zweifellos völlig entgegengesetzt zu deiner Absonderung auf dem windigen Treppenabsatz, wo ständig an dir Menschen vorbeieilen. Welche von uns beiden hat das schlimmere Los gezogen? Welche hatte eine konkretere Möglichkeit, es zu ändern? Meine Kali würde dir raten, in jeder Lebenslage etwas zu unternehmen, statt alles bloß hinzunehmen. Ich habe freilich gelernt, mit der Erteilung von Ratschlägen sparsam umzugehen.
Nach mehr als einjährigem Aufenthalt im Lager fand meine Pilgerfahrt durch das Exil eine weitere Fortsetzung. Eines Tages wurde ich nach Marseille verlegt, um von dort aus meine Ausreise aus Frankreich betreiben zu können, denn in der noch unbesetzten Zone des Landes waren die Behörden daran interessiert, ihre lästigen
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