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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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überflüssigerweise auf das Häuflein der verschreckten gefangenen Frauen richteten, kam ich richtig zu mir. Die Traumidylle löste sich in Nichts auf.
    In der Petite Roquette schrieb ich übrigens tschechisch, weil ich annahm, daß dies in einem Pariser Gefängnis eine verläßliche Geheimsprache war. Auch sonst blieb ja hier alles geheim: Mein Name, meine Herkunft, auch der Grund für unsere Verhaftung wurde eigentlich konsequent weiterhin geheimgehalten.
    Wenn du jetzt glaubst, Virginia, daß die Einzelhaft in Paris allem Anschein nach ein ganz angenehmer Aufenthalt gewesen sein könnte, irrst du gewaltig. Gefangensein an sich ist schlimm, fast unerträglich. Ein Vogel im Käfig kann nie durch einen Wald fliegen, ein Löwe im Zoo niemals einer Gazelle nachjagen. Mit Menschen im Gefängnis ist es noch ein bißchen anders. Da kommt das quälende Bewußtsein hinzu. Nicht immer sind sie schuldig, nicht immer sind sie unschuldig. Davon weißt du vielleicht selbst ein Lied zu singen, Virginia. Gibt es für dich weder Recht noch Unrecht? Kann dir die ganze Welt mit ihrer Moral und Unmoral gestohlen bleiben? Aber wo besteht dann ein Ausweg oder wenigstens ein Notausgang aus deiner Verlassenheit?
    Im Lager Rieucros, in das ich aus dem Gefängnis nach einem mehr oder weniger wertlosen Freispruch von seiten des Untersuchungsrichters und des III. Militärtribunals (ohne Anklage- noch Freispruchbegründung, also wiederum geheim!) transportiert wurde, versuchte ich gar nicht zu wohnen, da hauste ich nur mit dreißig bis vierzig weiteren Frauen in einer Holzbaracke. Weil man mich aus einem Gefängnis hierherbrachte, wurde ich zuerst in die sogenannte kriminelle Baracke eingereiht. Auf der Pritsche über mir schlief die Zigeunerin Kali, meine Nachbarinnenrechts und links waren Ladendiebinnen, Prostituierte, eine Geldfälscherin, eine Zuhälterin, die ihren Kunden nichtsahnende Dienstmädchen zuführte. Alle waren Ausländerinnen, viele unter ihnen Töchter arbeits- und brotlos gewordener polnischer, in Frankreich ansässiger Bergleute.
    Manchmal entbrannten in dieser Baracke richtige Schlachten, wenn die Angehörigen verschiedener Gruppierungen von Ladendiebinnen mit Kohlenschaufeln und Schürhaken aufeinander losgingen, weil sie nicht zugeben wollten, daß die konkurrierende Bande ein Pariser Kaufhaus erfolgreicher »bearbeitet« hatte als sie selbst. Wenn wir, zwei polnische »Politische« und zwei tschechische, einzugreifen versuchten, was nicht ganz ungefährlich war, konnten wir stets mit der tatkräftigen und geschickten Hilfe meiner Pritschennachbarin Kali rechnen. Sie riß die Mädchen auseinander, schalt sie laut in einer Sprache, die niemand verstand, und wenn dann wieder verhältnismäßige, aber erregte und tränenreiche Ruhe eintrat, pflegte sie sich zu mir zu setzen, und sprach ungefähr so:
    »Dumm sind die. Schlagen sich selbst kaputt, hier, wo doch alle uns schlagen wollen. Du weißt das, ich sehe das an deinem Gesicht. Du bist ein bißchen wie ich, wirst es auch niemals leicht haben unter den anderen.«
    »Unter welchen anderen, Kali?«
    Sie schmunzelte, holte mit ihrer kräftigen, aber mageren Hand weit aus, als wolle sie die ganze »andere Welt« umfassen, und sagte bloß: »Du weißt schon, wir beide wissen es.« Damit erhob sie sich, ging zur Tür, blieb an der Schwelle noch stehen und rief mir zu: »Kali ist deine Freundin, merk dir das.«
    Ich merkte es mir gut, auch nachdem ich in die »politische« Baracke überführt wurde. Da lag links von mir Aida, ein unschönes Mädchen aus Rumänien mit einem schönen Namen, gutherzig, freundlich und gegenüber den zahlreichen Härten des Lagerlebens völlig wehrlos. Auf der anderen Seite lag meine tschechische Freundin Tonka. Ich fühlte mich ziemlich sicher untergebracht. Auch in derpolitischen Baracke mußten Frauen verschiedenster Art miteinander auskommen, was nicht immer einfach war, selbst wenn hier keine Kohlenschaufelschlachten stattfanden. Aber die oft recht zugespitzten Wortgeplänkel – manchmal ging es bloß um eine Handbreit mehr auf der Holzpritsche – konnten gleichfalls ordentliche Gewitter heraufbeschwören. Noch schlimmer war es, wenn politische Differenzen bei der Beurteilung der Kriegslage oder wegen des Verhaltens gegenüber dem Lagerkommandeur mit wohlgezielten Wortspitzen ausgetragen wurden. Es verblüffte und befremdete mich, wie giftig diese Diskussionspfeile sein konnten. Tonka teilte meine Empörung. Vielleicht fühlten wir uns

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