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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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Ausländer tunlichst schnell loszuwerden. Aber ehe ich mich artig in Bewegung setzen konnte, gab es noch ein kurioses Vorspiel.
    Als mich Anfang 1941 die Vorladung zu einem Konsulat in Marseille erreichte – überraschenderweise zu einem holländischen, mit dem ich weder vorher noch nachher in Kontakt kam –, was die Voraussetzung für die Überführung aus dem Lager in die Hafenstadt bildete, war es Winter und draußen bitterkalt. Meine ganze Garderobe bestand aus Rock und Bluse und einem Regenmantel. So war ich an einem warmen Herbsttag in Paris verhaftet worden, und sonst besaß ich nun nichts. Ich schrieb also an meine Freunde in Marseille, tschechische Spanienkämpfer, vondenen die meisten aus verschiedenen Internierungslagern ausgebrochen waren, in welcher Situation ich mich befand. Prompt kam für mich in Rieucros ein Paket an, dem ich ein warmes Kostüm entnahm, das, o Wunder, sogar meine richtige Größe hatte, und einige Knäuel Wolle »für einen Pullover«. Mein Entlassungsschein trug das Datum des nächsten Tages. Mitgefangene kamen mir zu Hilfe. Eine strickte das Vorderblatt, eine andere den Rückenteil, zwei nahmen sich der Ärmel an, und die gutherzige Anni, die mit einem kranken Hüftgelenk durch die Emigration und Internierung hinkte, versah den Pullover mit einem kleinen Kragen, »damit du auch ein bißchen hübsch aussiehst«. Niemals habe ich Stricknadeln in solchem Tempo hin und her flitzen sehen. Die Frauen setzten eine »Stricknachtschicht« an, Aida wachte an der Barackentür, um eventuelle Kontrollposten rechtzeitig zu melden, und am nächsten Tag konnte ich warm vermummt mit einer Gruppe von Frauen, vornehmlich italienischen Antifaschistinnen, die Reise nach Marseille, vielleicht sogar in die baldige Freiheit, antreten.
    Unsere neue Adresse war ein Hotel Bompard im Marseiller Hafenviertel. Dieses »Hotel« war ein Bordell, das einer alten Armenierin und ihrem allseitig tüchtigen Sohn George gehörte. Sein Verdienst war es, daß das Bompard zu einer Polizeiinstitution umorganisiert worden war und damit für Mutter und Sohn zu einem lukrativen Unternehmen.
    Mit fünf Italienerinnen zog ich in ein Zimmer ein, das für uns sechs ein wenig eng war. Aber statt Strohsäcken auf dem Fußboden gab es hier Strohsäcke auf Bettgestellen, ein Fortschritt, den wir zu würdigen wußten. Die alte Armenierin, dank ihres vernachlässigten Äußeren und unfreundlichen Verhaltens bald »Hexe« genannt, hatte von der Polizei für uns Lebensmittelkarten gefaßt. Sie ließ uns freilich ganz ordentlich hungern, weil sie selbst mit diesen nicht allzu üppigen Zuteilungen auf dem Schwarzmarkt blühende Geschäfte trieb. Der einstige Bordellchef, Monsieur George,ein jovialer Vierziger mit einem brutalen Gesicht, strich ständig durch die Zimmer mit den nunmehr in seinem Etablissement internierten Frauen, griff sich die jüngeren heraus und versuchte, sie mit süßen Reden für seine Unternehmungen, eventuell auch für sich selbst, zu gewinnen. »Mit solchen Schultern könntest du leicht dein Glück machen.« Statt der schönen Schulter wurde ihm von allen nur eine kalte gezeigt, was er nicht verstehen konnte.
    »Ich biete diesen elenden Vogelscheuchen eine Chance, und die werden auch noch frech, als ob sie weiß Gott wie schön wären. Dankbar sollten sie mir sein, aber wem nicht zu helfen ist ...« Und er stelzte gekränkt davon.
    Das Bompard war eine amtlich unausweichliche, ansonsten jedoch völlig unwichtige Zwischenstation. Warum hätten wir uns dort auch nur im geringsten heimisch fühlen sollen? Marseille, die Stadt ringsum, war etwas ganz anderes. Mit ihrem Gewimmel von Flüchtlingen aus allen vom Dritten Reich besetzten Ländern, mit ihrer Panik und Angst, die in diesem Notausgang aus Europa wie eine schwere Wolke in der Luft hing, mit den Schiebern, welche mit dieser Panik Geschäfte machten, mit den Hilfskomitees, Polizeirazzien und vereinzelten Bombenangriffen war sie ein Kessel, in dem alles gebraut werden konnte.
    Es gab in Marseille jedoch auch noch eine andere Welt, in der man den gehetzten Menschen unauffällig half, wo man konnte, und zugleich zielbewußt daranging, eine Untergrundbewegung in Frankreich aufzubauen. Meine tschechischen Freunde, die zuerst die rätselhafte holländische Vorladung und dann auch noch meine Einkleidung ermöglicht hatten, gehörten dazu. Sie waren der Ansicht, daß ich nach der langen Haftzeit ein bißchen herzhafter verköstigt werden sollte, »sonst kommst du in

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