Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
nicht. Ein Kanarienvogel kann sich darüber keine Gedanken machen, selbst Löwen dürfte das schwerfallen. Menschen sind jedoch offenbar dazu ausersehen, nachzudenken. Unter gewissen Umständen kann das eine verdammt schwierige Aufgabe sein.
Ich habe in Frankreich in einem Mäusezimmer, in der Nachbarschaft eines Königsschlosses, in einem Künstlerheim, schließlich auch in einer Gefängniszelle und in einem Lager gewohnt. Jawohl, gewohnt. Die Einrichtung der einzelnen Unterkünfte war recht unterschiedlich, was selbstverständlich auf mein Wohlbehagen oder Unbehagen nicht ohne Einfluß blieb.
Das Gefängnis in Paris, in das ich aus dem Maison de la culture tchécoslovaque auf dem Montparnasse so jäh umgesiedelt wurde, hatte schon den grausigen Praktiken während der Französischen Revolution gedient. Im Ersten Weltkrieg verbrachte hier die prominente Spionin, die Tänzerin Mata Hari, ihre letzten Wochen und Tage, ehe sie erschossen wurde, und im Zweiten Weltkrieg mußte ich an diesem Ort ein halbes Jahr in Einzelhaft verbringen.
Meine Zelle war für solch eine Behausung beinahe groß. Ihre Einrichtung bestand aus Tisch und Schemel, einem eisernen Bettgestell mit Strohsack, Strohkissen und grobem Bettzeug, das den Stempel Maison de St. Lazaire trug, was auf die historische Vergangenheit dieser Institution hinwies. In einer Ecke standen ein Eimer für Zwecke der Notdurft und ein großer irdener Krug mit Wasser für die tägliche Hygiene und den Durst. Es gab auch ein Fenster, richtig hell wurde es hier jedoch nie. Aber kalt! Aus dem großen Eisenofen im Korridor drang nur spärlich Wärme durch die vergitterte Öffnung über der mit einem viereckigen Guckloch versehenen Tür herein.
Konsterniert blickte ich mich nach meiner Einlieferung in der neuartigen Umgebung um. Werde ich lange dableiben müssen? Weil es keine Antwort auf diese Frage gab, versuchte ich, von dem mir zugewiesenen Lebensraum auf jeden Fall irgendwie Besitz zu ergreifen.
Meine winzige Vase hatte ich natürlich nicht bei mir, auch nicht die Postkarte mit der Reproduktion eines Bildes von Chagall mit einem schwebenden Liebespaar am samtblauen Nachthimmel, die ich über meinem Schreibtisch angenagelt hatte, ebensowenig wie die grüne Südseelandschaft Maxim Kopfs. Der kahle Raum war freudlos und unpersönlich frostig. Das viereckige Guckloch an der Tür, das in regelmäßigen Abständen auf- und zugeklappt wurde, trug auch nicht zu seiner Wohnlichkeit bei. Im Gegenteil, es belästigte mich und ließ sich nicht wegdenken, spürte mir in jede Ecke nach. Bis eines Tages ...
»Möchten Sie etwas lesen, Madame?«
Mit Madame wurde ich angesprochen, weil ich einen Trauring am Finger hatte, der allerdings nur ein spontanes Geschenk eines jäh abreisenden Freundes war. Aber nicht wegen dieser Anrede glaubte ich vorerst, mich verhört zu haben. Was wurde mir da angeboten? An der Zellentür, die quietschend aufgegangen war, stand eine Aufseherin auf der Schwelle, schob die schwarze Pelerine, die zu ihrer Uniform gehörte, ein wenig auseinander und hielt mir einabgegriffenes Etwas entgegen, das sich als Katalog der Gefängnisbibliothek entpuppte. Mein Französisch war damals noch recht dürftig, dennoch griff ich eiligst nach diesem Wundergegenstand.
»Sie dürfen drei bis vier Bücher auf einmal ausleihen«, wurde ich belehrt, »wenn die ausgelesen sind, können Sie weitere bekommen.«
Musik, dachte ich, was ich da höre, ist keine Rede, das ist Musik.
Das erste Buch, das ich nun studierte, war dieser Katalog. Er enthielt vornehmlich Bücher über die Geschichte Frankreichs, ferner Belletristik seiner Klassiker und sogar eine kleine englische Abteilung mit Werken von Walter Scott. Als erstes wählte ich zwei Geschichtsbücher, Balzacs »Eugénie Grandet« und einen Band mit Erzählungen Scotts. Von Einsamkeit in der Einzelhaft konnte von da an bei mir keine Rede mehr sein.
Im Gefängnis liest man anders als im Alltag. In Balzacs Roman haben mich zwei durchaus unterschiedliche Stellen besonders berührt. Die eine berichtete, das Mädchen habe seinem geliebten Cousin am Morgen immer eine Schale (un bol) mit Milchkaffee zum Frühstück gebracht. Eine Schale mit Milchkaffee. Ein solches Getränk mag ich eigentlich gar nicht, aber jetzt konnte ich den Gedanken daran nicht loswerden. Eine Schale mit heißem, dampfendem und duftendem Milchkaffee.
Die andere Stelle war poetischer. Da erfuhr ich, daß der junge Mann seiner Eugénie Blumensträuße schenkte,
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