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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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Übersee als Gerippe an und machst uns Schande«. Weil sie wußten, wie kümmerlich uns die Hexe und ihr prächtiger Sohn George ernährten, versahen sie mich wiederholt mit Lebensmittelmarken, deren Ursprung ich nicht nachforschte; je weniger man von solchen Aktivitäten wußte, um so besser war es für alle Beteiligten.Dennoch hatte ich eine konkrete Vorstellung vom organisatorischen Hintergrund dieser verdienstvollen Tätigkeit, denn der tschechische Spanienkämpfer, der mir einen Bogen mit Fleischmarken zusteckte, war von Beruf Drucker.
    Bei meinen verschiedenen Wegen, um Visum, Ausreisebewilligung und Schiffskarte zu ergattern – zuerst mußte man im nächstliegenden Bistro die begleitende Polizeigarde loswerden, was ziemlich leicht gelang, wenn man einen Aperitif spendierte –, begegnete ich eines Tages den Eltern eines guten Freundes aus Prag, die hier nervös und ständig von Angst geplagt auf ihre Abfahrt in die Vereinigten Staaten warteten. Ihre Papiere waren in Ordnung, sie besaßen auch etwas Geld, aber die täglich neu aufkommenden alarmierenden Gerüchte hatten die beiden bereits völlig aus der Fassung gebracht. Sie kannten mich schon viele Jahre und freuten sich wirklich, einem vertrauten Menschen aus Prag in die Arme zu laufen. Eigentlich lief eher ich in ihre Arme, sie wollten mich gar nicht mehr loslassen, und ich mußte versprechen, mich von ihnen für den Abend zu einem »guten Essen« einladen zu lassen, auch wenn sie natürlich, wie sie bedauernd bemerkten, mit ihren Fleischmarken sehr sparsam umgehen mußten. Sie wußten ja nicht, wie lange sie noch in Marseille würden warten müssen. Als dann am Abend der Vater meines Freundes die Brille aufsetzte, seine Marken auf dem Tisch ausbreitete und sorgfältig Gramm zu Gramm zählte, ließ ich ihn erst ein bißchen daran arbeiten und sagte dann:
    »Kann ich Ihnen helfen? Stecken Sie Ihre Marken getrost wieder ein, Sie müssen ja noch einige Tage damit auskommen. Ich habe zufällig ein paar zusätzliche gefaßt, die wollen wir jetzt zusammen genießen.« Damit legte ich meinen noch unberührten Bogen auf den Tisch. Die beiden alten Herrschaften erstarrten und blickten mich erschrocken an:
    »Ja, aber – woher?« Das klang verängstigt, zugleich aber auch ein bißchen hoffnungsvoll.
    »Vom holländischen Konsul«, sagte ich. Diese respektable Institution, die mir ganz unerwartet den Weg aus dem Lager geebnet hatte, schien mir die richtige Referenz zu sein. Das Prager Ehepaar beruhigte sich sofort, vergaß, daß die Niederlande schon längst von den Nazis besetzt waren, wir aßen uns richtig satt, und ich schenkte den beiden beim Abschied die Hälfte meiner Marken. Sie haben nie erfahren, daß es gefälschte waren.
    Im Krieg ist so etwas möglich, Virginia, kleine Schwindel sind in bestimmten Lagen sogar notwendig. In ausweglosen versucht man, mit allen Mitteln einen Ausweg zu finden. Hast du – mit oder ohne Schwindel – schon versucht, deinen Standplatz auf dem Treppenabsatz zu ändern? Schau nicht weg, ich wäre froh, wenn du mir glauben könntest, daß es für uns alle Höhe- und Tiefpunkte gibt und dazwischen ein ganzes Meer von kleinen Wellen, von denen man einmal ein wenig gewiegt und dann wieder unsanft gerüttelt und gezaust wird. Geh nicht unter im grauen Meer des Alltags, Virginia: Blick von den Hosenbeinen, Schuhen, bestrumpften Waden und Rocksäumen lieber hoch zu den Augen der Menschen. Man muß nicht immer allein sein, Virginia, wenn man es nicht will.
    Noch heute glaube ich manchmal das laute Tuten des Schiffshorns bei der Ausfahrt aus dem Marseiller Hafen vernehmen zu können, das Aufklatschen des Wassers, das Ankurbeln und erste Stampfen der Maschinen, die herzzerreißenden Rufe der auf dem Quai Zurückgebliebenen und der an Bord Abreisenden. Mit jedem Ruck entfernten wir uns von Europa. Meine Freunde unten im Vieux Port wurden immer kleiner. Prag, meine Kindheit, meine Familie entschwanden in verschleierter Weite, was einst war, zerrann in längst Gewesenes. Und gerade dieses Vorgestern beunruhigte mich, nahm erneut Besitz von mir. Als ob es das Gestern mit seinen hastigen Veränderungen und Enttäuschungen gar nicht gegeben hätte.
    Jeder Wellenschlag brachte uns einem neuen, unsicheren und trotz allem auch verlockenden Schicksal näher. Mein nächster Wohnort? Wird es einen solchen überhaupt geben? Wann und wo?
    Ich besaß einen gültigen Paß, ein gültiges Visum für Mexiko und eine gültige Schiffskarte. Geld hatte ich

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